Marlene Suson 2
aufgehängt hatte.
Ganz entgeistert sah er ihr nach. Hatte er zu allem anderen auch seine Fähigkeit verloren, die Frauen zu bezaubern?
Sie sollten einmal in den Spiegel schauen.
Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht und stellte fest, daß es unter einem dichten, struppigen Bart verborgen war.
Voll Unbehagen fragte er sich, wie er wohl aussah. Es war schon lange her, seit er den letzten Blick in einen Spiegel geworfen hatte.
Meg kam mit dem Stoff zurück, den sie auf seinen Rücken legte. Die Wärme des Materials schien die Heilsalbe in seine Haut hineinzuschmelzen. Er seufzte wohlig auf. „Gott, tut das gut!“
Und doch nicht halb so gut, wie ihre Hände ihm getan hatten. Er fragte sich insgeheim, wie es wohl sein mochte, wenn Meg ihn an noch ganz anderen Stellen berührte. Lange lag er so da, das Gesicht nach unten und die Augen geschlossen, und gab sich seinen Träumereien hin . . .
Plötzlich hörte er ein sonderbares Knarren. Neugierig rollte er sich auf die Seite und stützte sich auf die Ellbogen. Das Geräusch kam von dem merkwürdigen Stuhl, in dem Meg saß. Er hatte gebogene Holzkufen, ähnlich wie bei einem Schaukelpferd, und bewegte sich auch auf die gleiche Art. Es kam Stephen zum Be- wußtsein, daß er Meg zum erstenmal sitzen sah, ausgenommen die kurzen Mahlzeiten, bei denen sie sich gerade für ein paar Minuten niederließ. Doch auch jetzt war sie nicht müßig. Ihre Nadel glitt emsig durch den Stoff einer Hose, an der sie einen Riß ausbesserte.
„Wo haben Sie denn diesen komischen Stuhl her?“ fragte Stephen, gerade als Josh das Blockhaus betrat. Der Junge ging gebückt unter seinem Joch, an dem die beiden vollen Wasserei- mer hingen.
„Der ist nicht komisch“, fuhr Josh Stephen an und stellte die Eimer neben dem Kamin ab. „Er ist etwas ganz Besonde- res. Wilhelm hat ihn für Meg gemacht.“ Die Stimme des Jungen klang beinahe ehrfürchtig, als er hinzufügte: „Es gibt nichts, was Wilhelm nicht kann.“
„Wer ist denn dieser bemerkenswerte Wunderknabe?“ fragte Stephen mit einem ironischen Zucken um die Mundwinkel.
„Unser nächster Nachbar“, antwortete Meg. „Er lebt ungefähr eine halbe Meile entfernt.“
Stephen runzelte die Stirn. War Wilhelm am Ende nicht nur Megs Nachbar, sondern auch ein Verehrer? Ihre Stimme verriet nichts über ihre Gefühle für diesen Mann, doch es lag klar auf der Hand, daß er in den Augen ihres kleinen Bruders der Held schlechthin war.
Josh wollte wieder hinaus und öffnete die Tür. Er blieb stehen und sagte: „Die Sonne hat einen Halo. Das heißt, wir bekommen in etwa acht Stunden einen satten Landregen.“
Stephen hielt diese Prophezeiung für baren Unsinn. „Wie kommst du denn darauf?“
„Weil Wilhelm es sagt, und der irrt sich nie.“ Josh verschwand nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.
„Kann Wilhelm auch über Wasser gehen?“ spöttelte Stephen.
Falls Meg seine Bemerkung gehört hatte, ging sie nicht dar- auf ein. Sie fuhr mit ihrer Näharbeit fort, ohne Stephen zu beachten.
Stephen war es nicht gewöhnt, daß eine Frau ihn dermaßen links liegenließ. Er setzte sich im Bett auf und bat um den klei- nen gesprungenen Spiegel, der an der Bretterwand neben dem Bett in der Ecke hing.
Meg stand auf und brachte ihm den Spiegel.
Als Stephen hineinsah, fuhr er entsetzt zurück. Über seine linke Braue zog sich eine häßliche Narbe. Ein wild abstehen- der, ungepflegter Bart bedeckte seinen Hals und fast sein ganzes Gesicht, und das zerzauste Haar fiel ihm strähnig bis auf die Schultern herab. Jesus Christus, er erkannte sich ja selbst nicht wieder!
Tiefe Scham ergriff ihn. Kein Wunder, daß Meg vor ihm zurückschreckte, denn was sie vor sich sah, war ein dürres Mannsbild mit wilder Mähne, einem struppigen Rauschebart, Spuren von Peitschenhieben auf dem Rücken und Fesselmalen an Händen und Füßen.
Er konnte ihr wahrlich keinen Vorwurf machen, daß sie seine Geschichte nicht glaubte. Seine Bewunderung für ihren Mut wuchs. Es war wirklich außerordentlich couragiert von ihr ge- wesen, einem Mann Unterschlupf zu bieten, der so bedrohlich aussah wie er. Er bezweifelte, daß irgendeine andere Frau das getan hätte.
Und vermutlich auch kein Mann.
Megan Drake war wirklich eine bemerkenswerte Frau.
Stephen mußte ihr beweisen, daß er nicht der gefährliche, un- glaubwürdige Strauchdieb war, für den sie ihn hielt. Er mußte sich unbedingt präsentabel machen.
Präsentabel! Guter Gott, es würde
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