Mars Trilogie 1 - Roter Mars
ein neuer Organismus. Mit neuen Fähigkeiten.
So also kam es auch zu schnellwachsenden Flechten, strahlungsresistenten Algen, gegen extreme Kälte unempfindlichen Schwämmen, salzliebenden Archaebakterien, die Salz verspeisen und Sauerstoff ausscheiden, superarktischen Moosen. Eine ganze Taxonomie neuer Lebensformen, alle partiell der Marsoberfläche angepaßt, denen allen ein Versuch damit geboten wurde. Manche Spezies starben aus: natürliche Selektion. Manche gediehen: Überleben der Tüchtigsten. Manche wucherten wild auf Kosten anderer Organismen; und dann aktivierten Chemikalien in ihren Ausscheidungen ihre Selbstmord-Gene, und sie starben so weit aus, bis der Anteil dieser Chemikalien wieder sank.
So paßt sich das Leben den Umständen an. Und gleichzeitig werden die Umstände durch das Leben verändert. Das ist eine der Definitionen von Leben: Organismus und Umwelt verändern sich gemeinsam in reziprokem Verhältnis, da sie zwei Manifestationen einer Ökologie sind, zwei Teile eines Ganzen.
Daher also kamen mehr Sauerstoff und Stickstoff in die Luft. Schwarzer Flaum auf dem Polareis. Schwarzer Flaum auf den ausgezackten Flächen von blasigem Gestein. Blaßgrüne Flecken auf dem Boden. Größere Reifkörner in der Luft. Winzige Lebensformen, die durch die Tiefen des Regoliths kriechen wie Milliarden von Maulwürfen und Nitrite zu Stickstoff und Oxide zu Sauerstoff umwandeln.
Zuerst war es fast unsichtbar und sehr langsam. Bei einer Kältewelle oder einem Sonnensturm gab es massenhaft Todesfälle, ganze Spezies wurden in einer Nacht ausgelöscht. Aber die Überbleibsel der toten ernährten andere Kreaturen. Für diese waren die Bedingungen so leichter, und der Prozeß gewann an Schwung. Bakterien vermehren sich rasch. Sie verdoppeln ihre Masse oftmals am Tag, wenn die Verhältnisse stimmen. Die mathematischen Möglichkeiten für ihre Wachstumsgeschwindigkeit sind atemberaubend. Und obwohl Beschränkungen in der Umwelt - besonders auf dem Mars —jedes wirkliche Wachstum weit unter den mathematischen Grenzen halten, haben sich die neuen Organismen, die Archaeophyten, schnell vermehrt, manchmal mutiert, sind immer gestorben. Und die neuen haben sich vom Kompost ihrer Ahnen ernährt und wieder vermehrt. Sie lebten und starben. Und was an Boden und Luft zurückblieb, war anders als vor diesen Millionen kurzer Generationen.
So geht also eines Morgens die Sonne auf und schießt lange Strahlen durch das zerrissene Gewölk auf Valles Marineris. Auf den Nordwänden erkennt man kleine Spuren von Schwarz, Gelb, Oliv, Grau und Grün. Flecke von Flechten punktieren die vertikalen Felsen, die so dastehen, wie sie es immer getan haben — steinig und zerborsten und rot; aber jetzt gefleckt wie von Schimmel.
M ichel Duval träumte von zu Hause. Er schwamm in der Brandung von Villefranche-sur-Mer. Das warme Augustwasser hob ihn hoch und hinunter. Es war windig, nahe Sonnenuntergang, und das Wasser war eine träge weiße Bronze, über die das Sonnenlicht hüpfte. Die Wellen waren für das Mittelmeer groß, schnelle Brecher, die in Böen aufstiegen und rasch ungleichmäßig zusammenbrachen, was ihm ermöglichte, einen Moment lang auf den Wellen zu reiten. Dann ging es nach unten in einem Durcheinander von Blasen und Sand und wieder nach oben in einen Schwall von goldenem Licht und Salzgeschmack allenthalben. Seine Augen juckten heftig. Große schwarze Pelikane ritten wie auf Luftkissen über die Wellen, flogen in steilen, unbeholfenen Wendungen auf, hielten inne und fielen gleich neben ihm ins Wasser. Beim Sturzflug legten sie ihre Flügel halb zusammen und operierten mit ihnen bis zum Moment des plumpen Aufschlagens im Wasser. Oft kamen sie hoch und verschluckten dabei kleine Fische. Ein Pelikan platschte gerade ein Meter von ihm entfernt auf. Gegen die Sonne bot er die Silhouette eines Stuka oder Pterodaktylus. Kühl und warm, in Salz eingetaucht, tanzte Michel auf der Flut und zwinkerte, vom Salz erblindet. Eine sich brechende Woge sah aus wie Diamanten, die zu Creme zerpulvert sind.
Sein Telefon klingelte.
Sein Telefon klingelte. Es waren Ursula und Phyllis, die ihm sagten, daß Maya wieder einen Anfall hätte und untröstlich wäre. Er stand auf, legte Unterzeug an und ging ins Bad. Wellen leckten über eine Gegenströmung. Maya, wieder deprimiert. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie guter Dinge gewesen, fast euphorisch. Wann war das gewesen? Vor einer Woche? Aber so war Maya. Maya war verrückt.
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