Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
fühlte, daß verschiedene Fäden sich verflochten, um etwas Neues hervorzubringen. Aber beim Akt des Sprechens brach die Geistestätigkeit ab. Er war anscheinend kein verbaler Denker; sondern es war eine Sache von Bildern, manchmal in den Sprachen der Mathematik und manchmal in einer Art unfertigem Strom, den er nicht näher charakterisieren konnte. Durch Sprechen wurde er gestoppt. Oder aber die verlorenen Gedanken waren viel weniger eindrucksvoll, als sie ihm vorgekommen waren. Denn die Handy-Aufzeichnungen enthielten nur ein paar Sätze, zögernd und ohne Zusammenhang und meistens langsam. Sie enthielten nichts von dem, was er aufzuzeichnen gehofft hatte, welches, besonders in diesem Zustand, genau das Gegenteil gewesen war - schnell, zusammenhängend, mühelos im freien Spiel des Geistes. Dieser Prozeß konnte nicht eingefangen werden. Und Sax war stark davon betroffen, wie wenig von den Gedanken eines Menschen jemals aufgezeichnet oder im Gedächtnis behalten oder auf irgendeine andere Weise anderen übermittelt werden konnte. Der Bewußtseinsstrom ließ sich niemals mit anderen teilen, abgesehen von den tatsächlichen Fingerhutportionen, selbst vom fruchtbarsten Mathematiker oder sorgfältigsten Chronisten.
Nun wohl, dieser Umstand war nur eine der vielen Bedingungen, denen sie sich in ihrem unnatürlich verlängertem hohen Alter anpassen mußten. Das war sehr lästig und bisweilen sogar ärgerlich. Ohne Zweifel mußte das Thema untersucht werden, obwohl das Gedächtnis einen notorischen Morast für die neurologischen Wissenschaften darstellte. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem vom undichten Dach. Unmittelbar nach dem Verlust eines solchen Gedankenganges, wenn man sich seiner fehlenden Gestalt und der emotionalen Erregung noch bewußt war, trieb es ihn fast zum Wahnsinn. Wenn aber der Inhalt des Gedankens eine halbe Stunde später wirklich vergessen war, schien es nicht mehr wichtiger zu sein als das Entschwinden von Träumen in den Minuten nach dem Erwachen. Er hatte andere Dinge, um die er sich kümmern mußte.
Da wäre die Serie von Todesfällen unter seinen Freunden. Diesmal war es Yeli Zudov, ein Mitglied der Ersten Hundert, das er nie gut gekannt hatte. Dennoch fuhr auch er nach Odessa hinunter, und nach dem Gedenkgottesdienst, einer traurigen Angelegenheit, während der Sax oft durch Gedanken an Vlad, Spencer oder Phyllis und dann Ann abgelenkt wurde, kehrten sie zu dem Praxisgebäude zurück und saßen in Michels und Mayas Wohnung. Es war nicht dasselbe Apartment, in dem sie vor der Zweiten Revolution gelebt hatten; aber, soweit Sax sich erinnern konnte, hatte Michel sich Mühe gegeben, es genau so einzurichten, wie es damals ausgesehen hatte - wohl zur Therapie Mayas, als sie immer mehr mentale Schwierigkeiten hatte -, Sax wußte nicht, welche es zuletzt gewesen waren. Er war nie imstande gewesen, sich um die melodramatischen Aspekte Mayas zu kümmern und hatte Michels Reden über sie keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, wenn sie beide in letzter Zeit zusammenkamen. Es war immer anders und immer dasselbe.
Aber jetzt nahm er eine Tasse Tee von Maya entgegen und sah ihr nach, als sie wieder in die Küche ging, vorbei an dem Tisch, wo Michels Notizbücher ausgebreitet waren. Obenauf lag ein Foto von Frank, das Maya vor langer Zeit hochgeschätzt hatte. Sie hatte es in dem Apartment im Küchenabteil beim Ausguß an der Wand befestigt. Daran erinnerte Sax sich sehr deutlich. Es war eine Art heraldischer Zug in jenen angespannten Jahren, als alle kämpften, während der junge Frank sie auslachte.
Maya blieb stehen und sah das Foto genau an. Ohne Zweifel erinnerte sie sich an ihre früheren Toten. Jene, die vor so langer Zeit dahingegangen waren.
Aber sie sagte: »Was für ein interessantes Gesicht!«
Sax empfand einen Kälteschauer in der Magengrube. So deutlich waren die physiologischen Anzeichen des Kummers. Der Verlust des Inhalts eines spekulativen Gedankengangs, ein metaphysisches Abenteuer - das war eine Sache. Aber dies, ihre eigene Vergangenheit und die gemeinsame Vergangenheit, war unerträglich. Das würde er nicht aushalten.
Maya sah, daß die anderen schockiert waren, wußte aber nicht, warum. Nadia hatte Tränen in den Augen, was ein ungewöhnlicher Anblick war. Michel sah betroffen aus. Maya spürte, daß etwas ernstlich nicht stimmte, und floh aus dem Apartment. Niemand hielt sie auf.
Die anderen griffen das Thema auf. Nadia ging zu Michel. Der brummte mit
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