Marschfeuer - Kriminalroman
bayerischen Bamberg nach Schleswig-Holstein
verschleppt hatte. In das Tausendsechshundert-Seelen-Kaff Wewelsfleth. In ein
Häuschen direkt am Friedhof. Der Traumort für ein sechzehnjähriges Mädchen.
Lyn hatte wochenlang
grässliche Angst ausgestanden, dass ihre Tochter sich doch noch für ihren Vater
und damit Bayern entscheiden würde. Aber sie war geblieben. Widerwillig, aber
sie war da.
»Die letzten Schnittchen
lassen wir für Lotte«, sagte Lyn und stellte den Teller zur Seite. »Sie wird
Hunger haben nach dem Training.«
Sophie machte sich lang
und pulte die Gurken von den Brotscheiben.
»Krümel«, mahnte Lyn,
»iss nicht die ganze Deko.«
Sophie stopfte die
grünen Scheibchen in ihren Mund. »Lotte weiß doch nicht, dass welche drauf
war.«
»Hi! Bin zu Hause«,
tönte es in diesem Moment vom Flur. Das begleitende Geräusch gehörte eindeutig
zu einer in die Ecke fliegenden Sporttasche.
»Die durchgeschwitzten
Klamotten bitte gleich in die Waschmaschine und nicht wieder drei Tage in der
Tasche lagern«, kommentierte Lyn die Aktion Richtung Flur.
Charlotte schlenderte
ins Esszimmer und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Dir auch einen schönen guten
Abend«, sagte sie zuckersüß Richtung Lyn. Ihre Schwester ignorierte sie. »Für
mich?« Sie zog den Brotteller zu sich heran und machte sich heißhungrig über
die Schnittchen her.
»Habt ihr nach dem
Training noch ein wenig zusammengehockt?« Lyn schob ihrer Tochter den Kakaokrug
zu.
Charlotte nickte. »Wir
war’n noch im Container.«
»Ah ja. Im Container …
Was ist das für ein Container? Bananen, Hightech oder von Kinderhänden in
Indonesien gefertigte Markenklamotten-Plagiate?«
Charlotte fletschte die
Zähne. »Witzig, Mama. Hast du ‘n Clown gefrühstückt? … Der Container ist so ‘ne
Art Jugendtreff. Steht auf dem Schotterparkplatz, gleich neben der Sporthalle.
Jana hat mich bequatscht mitzukommen. Ein paar Leute waren ganz okay. Waren
aber auch ein paar Asis dabei.«
Lyns Augenbraue zuckte
nach oben. »›Asi‹ ist wieder eine deiner Pauschalverurteilungen.«
Als Charlotte genervt
die Augen verdrehte, strahlte Lyn sie an. »Aber ich finde das richtig klasse,
Lotte, dass du auch außerhalb der Schule ein paar neue Leute triffst. Das ist
toll. Bring Jana doch mal mit.«
»Die hängt meistens mit
ihrem Freund rum. Gonzo. Lernt Schiffbauer auf der Jacht-Werft in Beidenfleth.
Nicht mein Fall. Der hat so ‘n fiesen Blick. Und ist anscheinend ständig
pleite. Der hat mich doch glatt angehauen, ob ich ihm zwanzig Euro leihen kann.«
»Da hat er sich ja die
Richtige ausgesucht«, klinkte Sophie sich ins Gespräch ein. »Ich krieg noch die
zehn Euro, die ich dir letzte Woche geliehen habe.«
»Noch eine, die ‘n Clown
zum Frühstück hatte.« Der Blick, den Charlotte ihrer Schwester zuwarf,
ermunterte die, ihren Mittelfinger zu strecken.
»Wie sieht’s aus«,
schaltete Lyn sich ein, um Eskalationen zu vermeiden, »wollen wir nächste Woche
ins Kino? Der neue mit Johnny Depp läuft doch. Vielleicht Dienstag? Da kommen
wir für fünf Euro rein.«
»Oh ja, klasse!«, freute
sich Sophie. »Wir können Opa fragen, ob er mit–«
»Ich kann nicht«, fiel
Charlotte ihrer Schwester ins Wort, »am Dienstag ist Großkampftag beim Container
angesagt. Wir müssen putzen. Vorher alles rausräumen. Bedingung des
Bürgermeisters, wenn wir den neuen Anstrich haben wollen. Das wird ‘ne
Scheiß-Arbeit, aber ich hab Jana versprochen mitzumachen. Haben wir irgendwo
Putzzeug, das ich mitnehmen kann?« Sie stand auf und öffnete den Unterschrank
der Spüle.
»Lotte Hollwinkel greift
freiwillig zum Feudel! Das muss für die Nachwelt festgehalten werden.« Lyn
sprang auf und malte auf dem Familienplaner an der Wand ein fettes rotes Kreuz
in Charlottes Dienstag-Spalte und schrieb daneben: Wunder
geschehen!
Diesmal hob Charlotte
ihren Mittelfinger.
Noch bevor Lyn die Augen
öffnete, wusste sie, dass sie nur geträumt hatte. Von Hendrik. Und sich. Es war
ein bedrückender Traum gewesen. Sie war neben ihm eingeschlafen und hatte ihre
Kinder vergessen. Einfach vergessen. Erst sein Wecker hatte sie geweckt. Mit einem
grässlichen, immer lauter werdenden Heulton.
Lyn öffnete die Augen.
Die Traumbilder waren verschwunden, der Heulton nicht. Sie tastete nach ihrer
Nachttischlampe und knipste sie an, während das Heulen abebbte. Vier Uhr elf.
»Scheiß Brandstifter!«,
stieß Lyn giftig aus, als der Sirenenton vor ihrem Schlafzimmerfenster
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