Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Prolog
Rue des Pistoles,
zwanzig Jahre danach
Er hatte nur ihre Adresse. Rue des Pistoles, in der Altstadt. Er war seit Jahren nicht mehr in Marseille gewesen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr.
Man schrieb den 2. Juni, es regnete. Obwohl es in Strö - men goss, weigerte sich der Taxifahrer, in die kleinen Gassen vorzudringen. Er setzte ihn an der Montée-des-Accoules ab. Über hundert steile Stufen und ein Gewirr von Straßen lagen bis zur Rue des Pistoles noch vor ihm. Der Boden war mit aufgerissenen Müllsäcken übersät, und ein säuerlicher Geruch stieg von der Straße auf, eine Mischung aus Pisse, Feuchtigkeit und Schimmel. Einzige große Veränderung: Die Renovierungswelle hatte das Viertel erreicht. Einige Häuser waren abgerissen worden. Die Fassaden der anderen waren neu gestrichen, ocker oder rosa mit grünen oder blauen Fensterklappen, ganz wie in Italien.
Von der Rue des Pistoles, vielleicht eine der engsten Gassen, war nur die Hälfte übrig geblieben, die Seite mit den geraden Hausnummern. Die andere war platt gemacht worden, ebenso wie die Rue Rodillat. Stattdessen: ein Parkplatz. Das fiel ihm als Erstes auf, als er um die Ecke der Rue du Refuge bog. Hier schienen die Baulöwen eine Pause eingelegt zu haben. Die Häuser waren schwärzlich, wie von Lepra befallen, zerfressen von einer aus Abwässern gespeisten Vegetation.
Er war zu früh dran, das wusste er. Aber er hatte keine Lust, in ir - gendeinem Bistro einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und dabei dauernd auf die Uhr zu sehen, bis er es wagen konnte, Lole zu wecken. Er träumte von einem Kaffee in einem bequemen Sessel in einem richtigen Appartement. Das hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt. Sobald sie die Tür öffnete, steuerte er den einzigen Sessel in der Wohnung an, als wäre er nie weg gewesen. Er liebkoste die Armlehne, setzte sich langsam und schloss die Augen. Erst danach sah er sie an. Zwanzig Jahre danach.
Sie blieb stehen. Aufrecht, wie immer. Die Hände in den Taschen eines strohgelben Bademantels vergraben, der ihre Haut brauner als sonst erscheinen ließ und ihre schwarzen Haare hervorhob, die sie jetzt kurz trug. An den Hüften hatte sie vielleicht zugenommen, er war sich nicht sicher. Sie war zur Frau geworden, aber sie hatte sich nicht verändert. Lole , die Zigeunerin. Schön, wie eh und je.
»Ich würde gern einen Kaffee trinken.«
Sie nickte. Ohne ein Wort. Ohne ein Lächeln. Er hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Aus einem Traum, in dem sie mit Manu nach Sevilla raste, sorglos, die Taschen voller Kohle. Einem Traum, der sie jede Nacht heimsuchte. Aber Manu war seit drei Monaten tot.
Er ließ sich in den Sessel sinken, streckte die Beine von sich und zündete sich eine Zigarette an. Zweifellos die Beste seit langem.
»Ich habe dich erwartet.« Lole reichte ihm eine Tasse. »Aber später.«
»Ich habe einen Nachtzug genommen. Einen Sonderzug für Frem - denlegionäre. Weniger Kontrollen. Mehr Sicherheit.«
Ihr Blick war woanders. Dort, wo Manu war.
»Setzt du dich nicht?«
»Ich trinke meinen Kaffee lieber im Stehen.«
»Du hast immer noch kein Telefon.«
»Nein.« Sie lächelte. Für einen Moment schien die Schläfrigkeit aus ihrem Gesicht zu weichen. Sie hatte den Traum verjagt. Melancho - lisch sah sie ihn an. Er war müde und unruhig, von altbekannten Ängsten geplagt. Es gefiel ihm, dass Lole mit Worten geizte, keine Erklärungen abgab. Die Stille brachte für sie beide das Leben wieder in Ordnung. Ein für alle Mal.
Ein Pfefferminzduft hing in der Luft. Er sah sich im Zimmer um. Es war ziemlich groß, weiße, nackte Wände ohne Regale, Bücher oder Krimskrams. Das Mobiliar war aufs Wesentliche re duziert und willkürlich zusammengewürfelt: ein Tisch, Stühle, eine Anrichte und ein Bett am Fenster. Eine Tür führte ins Schlafzimmer. Von seinem Platz konnte er einen Teil des Bettes sehen. Blaues Bettzeug, nicht gemacht. Er konnte sich nicht mehr an die Ausdünstungen der Nacht erinnern. Ihre Körper. An Loles Geruch. Ihre Achselhöhlen rochen bei der Liebe nach Basilikum. Die Augen fielen ihm zu. Als er sie wieder aufschlug, schweifte sein Blick zum Bett am Fenster.
»Da kannst du schlafen.«
»Ich würde jetzt gern schlafen.«
Später sah er sie durch das Zimmer gehen. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Um auf die Uhr zu schauen, hätte er sich bewegen müssen. Und er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Lieber wollte er mit halb geschlossenen Augen Lole zusehen, wie sie im Zimmer
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