Marshall McLuhan
Provinznest fest, ohne Perspektive, Glamour und wahre Leidenschaft, ein mürrischer junger Mann mit seinen Büchern, seiner Pfeife, einer jungen Frau, einem Sohn, und die Zeit sauste an ihm vorbei.
Seine Beziehung zu Wyndham Lewis verschlechterte sich ebenfalls, und wie es so ist mit geringgradig paranoiden Schizophrenen, schrieb Wyndham eine Liste aller Verfehlungen, die Marshall begangen hatte – kleine Vergehen wie, Corinne im Wagen sitzen gelassen zu haben, während er Lewis besuchte, sich an der Fakultät in St. Louis wichtig gemacht und später in Windsor sowohl Corinne als auch ihn, Lewis, vernachlässigt zu haben –, und kündigte ihm darauf die Freundschaft auf. Marshall war sich keiner dieser Sünden bewusst. Er muss die Liste gelesen und dann gesagt haben: »Hä?« Ob verdient oder nicht, das Urteil war gefällt. Acht Jahre später näherten sich die beiden wieder an und blieben bis zu Lewis’ Tod 1957 in Kontakt. Zudem schrieb Lewis in seinem 1948 veröffentlichten Buch
America and Cosmic Man
die Zeilen, die zu Marshalls Markenzeichen wurden: »Die Erde ist zu einem großen Dorf geworden, mit Telefonanschlüssen von einem Ende zum anderen, und Lufttransport, so schnell wie sicher.«
Hinzu kommt, dass Lewis, der Maler/Schriftsteller, McLuhan damit vertraut machte, wie verschiedene Ausdrucksformen die Sinne auf unterschiedlichen Ebenen beeinflussen. Er brachte ihn außerdem auf die Idee, sich den Strudel der Veränderung – den Mahlstrom der Modernisierung – untertan zu machen, statt sich von ihm in die Tiefe ziehen zu lassen. Kultur von außen zu betrachten, war sowohl eine Frage des Überlebens als auch eine künstlerische Strategie.
Raum, Zeit und die Maschine
Wer McLuhan zu jener Zeit außerdem beeinflusste, war Sigfried Giedion, ein Schweizer Architekturhistoriker. Genau wie McLuhan legte Giedion – zuerst in seinem berühmten
Raum, Zeit, Architektur: die Entstehung einer neuen Tradition
(1941) und ein bisschen später in
Die Herrschaft der Mechanisierung
(1948), seiner Analyse eines kulturellen Wandels durch die Mechanisierung der Nachkriegszeit – so etwas wie eine einheitliche Kulturtheorie vor, insbesondere über die Entstehung und Vermittlung neuer Ideen von einer Generation zur nächsten. Er hinterfragte Begriffe wie Autorschaft, Copyright, Stil, Quelle, Interpretation, Verzerrung und Publikum und betrachtete bestimmte kulturelle Ausdrucksformen in Design, Manufaktur und Baukunst als Ergebnis einer Massenautorschaft, als würde – wie heutzutage das Internet – das Publikum sein eigenes Stück schreiben.
So wie vor ihm schon F. R. Leavis bestärkte Giedion McLuhan darin, sich nicht nur mit Romanen, Filmen und Gedichten zu befassen, sondern
alles
als kulturelles Artefakt anzusehen: Abfall, Kathedralen, Kondensstreifen, Pfannkuchenstapel. In der Anthropologie war es dasselbe, jeder Gegenstand, der Ausdruck einer Kultur war, konnte analysiert werden. Giedion hatte die Welt für Marshall ästhetisiert, und die moderne Welt übte jetzt dieselbe Faszination auf ihn aus wie eine Volkskultur auf einen Ethnologen. Das ist der Ausgangpunkt, den er im Untertitel zu seiner ersten größeren Abhandlung über diese neue Welt verdeutlicht:
Volkskultur des Industriellen Menschen
.
War Marshall also ständig auf der Suche nach intellektuellen Autoritäten, die seinen (offenbar angeborenen) Hang rechtfertigten, alle kulturellen Ebenen gleichermaßen zu kritisieren? Oder gab es ein Aha-Erlebnis in seinem Leben, nach dem plötzlich alles zusammenpasste? Andy Warhol (ebenfalls ein frommer Katholik) erzählte einmal, wie er in den frühen sechziger Jahren durch die USA gefahren sei und alles, die Schilder unddie Werbung, so »pop« ausgesehen habe. Er erklärte außerdem, dass, wenn man einmal angefangen habe, die Welt als »pop« zu betrachten, man sie nie mehr so sehen könne wie vorher. Vielleicht war Marshalls Pop-Erlebnis Teil des Kulturschocks nach seiner Rückkehr aus Cambridge, aber falls es einen genauen Zeitpunkt gab, dann ist er jedenfalls nicht bekannt.
Der Mahlstrom
Marshall war begeistert von Edgar Allan Poes 1841 erschienener Kurzgeschichte »Sturz in den Mahlstrom«, und auch ich bin froh, sie durch ihn kennengelernt zu haben. In Poes Geschichte sitzt ein junger Mann auf einem Berg in Norwegen, neben ihm der Erzähler, ein anscheinend relativ alter Seemann. Wie sich herausstellt, ist der alte Mann in Wirklichkeit noch jung – er war ein paar Jahre zuvor frühzeitig gealtert, als
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