Marshall McLuhan
wurden, wenn er formales akademisches Wissen mit der Beobachtung von Massen- und Medienkultur verschmolz – wenn er Jahrhunderte und Kontinente umspannte und sie mit seinen Worten zusammenbrachte. In einem Essay über Jukeboxes schrieb er:
Für den Stammesmenschen ist der Raum ein unkontrollierbares Geheimnis. Für den technischen Menschen ist es die Zeit. Zeit ist immer mit Tausenden von Entscheidungen und Unentschlossenheiten belastet, was einer Gesellschaft, die so viel Selbständigkeit an rein automatische Prozesse und Routinen abgetreten hat, Angst einjagt. Das Problem besteht deshalb darin, panisches Entsetzen durch »Zeit-Totschlagen« oder durch die Zerstückelung der Zeit in »Ragtime« unter Kontrolle zu bekommen.
Selbst ärgste Kritiker müssen zugeben, dass McLuhans Angriffe auf die Konsumkultur sowohl brillante Analysen sind – und dabei eine Sprache für eine Textgattung fanden, die bisher nie Gegenstand der Kritik gewesen war – als auch ein gurgelnder Kessel kluger Bösartigkeiten. Marshalls Soufflé fiel nur dann zusammen, wenn er vom Thema der Moderne und ihren neuen Ausdrucksformen abkam. Ob selbstvergessen oder nicht, jedenfalls erkannte er bald, dass seine Argumente und Sprache nur dann wirklich Anklang fanden, wenn er die Medien-Taste drückte. Falls er das nicht tat, galt er als junger alter Sack – was in Ordnung war, hätte er ein ganz normaler Akademiker sein wollen. Aber das war nicht der Fall. Elsies Sohn wollte glänzen. Schon damals in der tristen Eintönigkeit von St. Louis wusste Marshall, dass, wenn er sich einen Namen machen wollte, er aus dem Wissenschaftskäfig ausbrechen und dieser Bruch etwas mit Massenkultur zu tun haben musste.
Marshalls Fixierung auf Dagwood brachte außerdem seine Homophobie zum Ausdruck. Man kann es tatsächlich nicht anders beschreiben. Blondie (die die Entertainment-Industrie verkörperte) machte aus Amerikas Männern schwuchtelige Weichlinge. Marshall war der Meinung, Homosexualität »grassierte damals, dank Blondie, die Dagwood vor ihren Kindern Cookie und Alexander seiner Manneswürde beraubte. Diese Homosexualität war wahrscheinlich die größte Bedrohung der damaligenMoral.« Ehrlich, so etwas denkt man sich nicht aus. Genauso wenig freundete sich Marshall mit der Liberalisierung der Nachkriegszeit an, einschließlich der Frauenbewegung. Frauen beschrieb er als »von Natur aus fügsam, unkritisch und Routine liebend.« Im Jahr 2010 hätte er sich damit auf einem Campus etwa drei Minuten lang halten können. In vielerlei Hinsicht war er ein mehr als konservatives Kind seiner Zeit, und dass er über seine reaktionären Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, Geschlechterrollen, Sünde und Sexualität so gut wie nie ein Wort verlor, hat ihn vielleicht gerade noch mal davor bewahrt, seinerzeit marginalisiert zu werden. 14
Reden wir nicht über den Krieg
Der Zweite Weltkrieg war mitten im Gange, aber inwiefern Marshall darin verwickelt war, erwähnen seine Biographen nur beiläufig. Seine Einstellung zum Krieg – den er in Cambridge offenbar ignoriert hatte und der die USA einen Monat, bevor sein erstes Kind geboren wurde, erreichte – spiegelt seinen störrischen Konservatismus wider. Es ist verblüffend, wie wenig Einfluss der Krieg auf seine innere und äußere Welt hatte. Seinen Biographen zufolge hatte Marshall keinerlei Sympathie für die Alliierten und betrachtete den Krieg als eine aktualisierte Übung, bei der der Tötungsprozess durch moderne Technologien homogenisiert wurde. Das soll nicht heißen, er sei gegen den Krieg oder Pazifist gewesen, dem war nicht so. Er wollte keine Partei ergreifen – merkwürdig, wenn man bedenkt, wo und zu welcher Zeit er gelebt hat. Oder hegte er gar Sympathien für die Achsenmächte? Wie dem auch sei, als kerngesunder Kanadier mit Anfang dreißig war Marshall erstklassiges Kanonenfutter und hätte in die US-Armee eingezogen werden können, zumal seine Tauglichkeit bei der Einberufungsbehörde in St. Louis im Dezember 1943 auf 1A eingestuft worden war. Im selben Monat erhielt er in Cambridge seinen Doktor für »Thomas Nashes Rolle im Bildungswesen seiner Zeit«.
Wir betrachten die Gegenwart im Rückspiegel. Wir marschieren rückwärts in die Zukunft.
M. M.
Wir formen unser Werkzeug, und danach formt unser Werkzeug uns.
M. M.
Von der Außenwelt abgeschnitten
Im Sommer 1943 unterrichtete Elsie Schauspiel in Detroit. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass auf der anderen Seite des
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