Martha Argerich
Verwaltungswesen auf sich, an dessen Ende eine gut dotierte Anstellung als Parlamentssekretärin winkte. Juanita erhielt die höchste Punktzahl, aber weil man sie für zu jung hielt oder weil sie eine Frau war, wurde sie auf den zweiten Platz zurückgestuft und ging leer aus. Diese erneute Benachteiligung erregte einmal mehr ihren Zorn und löste ein Verlangen nach Revolte und Aufruhr in ihr aus. Ein seltsamer Zufall wollte es, dass der glückliche Begünstigte in diesem Auswahlverfah-
ren der Onkel der Pianistin Lyl Tiempo war, einer engen Freundin Marthas. Jedes Mal, wenn Juanita ihr später begegnete, schleuderte sie ihr mit ungebrochener Wut vor die Füße: »Dein Onkel hat mir meine Stelle gestohlen!« Niemals sollte sie diesen Affront verwinden.
An der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften kam auf hundert männliche Studenten eine Frau. Juanita war nicht nur die Jüngste an der Universität, sondern auch Vorsitzende der
Sozialistischen Studentenpartei. Stets mit den besten Verbindungen ausgestattet, hatte sie zum Semesterende einen Tanzabend an Deck eines alten Zerstörers organisiert. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nicht ohne eine gewisse Pikanterie …
Als Juanita und Juan Manuel Argerich ihr erstes gemeinsames Domizil in Palermo bezogen, gesellte sich Aïda, Juanitas Schwester, zu ihnen. Später lebten sie in der Avenida Obligado 1915 in Belgrano, einem vornehmen Villenviertel etwas außerhalb des Stadtzentrums.
Mit ihrem Weggang von Villa Clara hatte Juanita sämtliche Spuren ihrer jüdischen Herkunft beseitigt. Selbst wenn ihr Ehemann sie während ihrer heftigen Auseinandersetzungen bei weit geöffneten Fenstern gelegentlich als »dreckige Judenschlampe« beschimpfte, tat sie so, als verstünde sie nichts. Wenn man sie nach der Religion ihrer Eltern befragte, erwiderte sie: »Evangelisch«. Doch in der kleinen jüdisch-musikalischen Gemeinde von Buenos Aires konnte sie damit niemanden hinters Licht führen. Der Pianist Alberto Neuman, der im selben Viertel wohnte, erinnert sich, dass seine Mutter jedes Detail über die jüdische Herkunft von Juanita wusste, die in vielerlei Hinsicht geradezu die Karikatur einer »jüdischen Mamme« war. Wer sich auskannte, vermochte hin und wieder auch jiddische Wendungen aus ihrer Rede herauszuhören, obwohl sie die Sprache ihrer Vorfahren natürlich aus ihren vier Wänden verbannt hatte. In sicherem Abstand von ihrer Familie und ihrem Clan wollte sie sich zweifellos vor dem zu dieser Zeit in der argentinischen Gesellschaft recht verbreiteten Antisemitismus schützen. Martha erfuhr erst als Erwachsene von ihrer jüdischen Abkunft. »Bist du aus gesellschaftlichen Gründen konvertiert?«, fragte sie. »Vielleicht«, erwiderte ihre Mutter, der es widerstrebte, ein so lange gehütetes Familiengeheimnis preiszugeben.
Juanitas Stammbaum war nicht gerade am Ufer eines langen ruhigen Flusses angepflanzt worden. Neben Ärzten und Psychiatern sind viele psychisch Kranke in ihm zu finden. Schreckliche Schicksale ereilten ausgerechnet die beiden ihrer Geschwister, die ihr am nächsten standen: Aïda beging Selbstmord, und Benjamin wurde wegen seiner manisch-depressiven Erkrankung, die von akuten Paranoiaschüben begleitet wurde – weil er überzeugt war, sein Kollege wolle ihm an den Kragen, trug er bei der Arbeit stets ein Messer bei sich –, in eine Nervenklinik eingeliefert. Bernardo, der andere Bruder, war Neuropsychiater und lebt noch heute in Buenos Aires. Juanita selbst ist mehrfach in der Psychiatrie gewesen. »Wenn eine von uns mal die Nerven verliert, ist sofort vom ›Heller-Gen‹ die Rede«, erzählt Annie Dutoit, Marthas mittlere Tochter. Der Komponist Robert
Schumann litt unter derselben genetisch bedingten Krankheit – vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass seine Musik
Martha so tief berührt.
Die Kindheit herausragender Musiker ist oft von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Man möchte das auslösende Moment, die offenbar besonders günstigen Bedingungen kennen, dank deren ein solches Wunder entstehen konnte. Das soziale Milieu von Martha Argerich ist zwar durchaus ein bürgerliches, aber dennoch atypisch. Ihre Eltern gehören der Mittelklasse an. Die Mutter ist musikbegeistert und eine große Opernfreundin. Zu den klassischen Aufnahmen, die aufgereiht neben dem Schallplattenspieler stehen, zählen das Orchesterwerk Les Préludes von Liszt, Webers Aufforderung zum Tanz , Paganinis Violinkonzert Nr. 1 … Nicht mehr und nicht weniger als
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