Martha Argerich
in jeder anderen Familie auch, die einen gewissen kulturellen Anspruch hat. Der Vater singt, spielt Gitarre und erzählt seiner Tochter fantastische Geschichten, die er sich selbst ausdenkt.
Martha ist ein unkompliziertes Kind von robuster Konstitution. Mit ihren kurzen schwarzen Haaren, den fragenden Augen, dem sinnlichen Mund und den beweglichen Händen erinnert sie an eine kleine Squaw. Sie drückt sich gut aus, aber ihre Art zu reden steht im Kontrast zu der sehr artikulierten, extrovertierten Aussprache des Spanischen. Sie spricht schnell, mit weichen, leicht verwischten Konsonanten und Vokalen, die ineinanderfließen wie die Farben eines Aquarells. Ihre Gedankengänge sind immer amüsant, unkonventionell und sehr logisch. Es ist nicht leicht, ihr zu folgen, denn ihr Geist legt ein rasantes Tempo vor, genau wie später ihre Finger.
Tyrano behauptet, seine Tochter sei ein Genie, er habe das an ihrem Blick erkannt. Um ihre Talente zu fördern, hat er eine ganz eigene Methode entwickelt. Er hebt das Moskitonetz über ihrem Bettchen hoch, schiebt seine Hand unter das Baby, bewegt die Finger, als wäre seine Hand eine riesige Krake, und stößt dabei schaurige Laute aus. Angesprochen auf dieses wenig orthodoxe Verhalten, erwidert er mit geheimnisvoller Miene: »Ich tue das, um ihre Sensibilität zu stärken.« Die konzentrierte Aufmerksamkeit des kleinen Mädchens, das keinerlei Anzeichen von Angst erkennen lässt, scheint ihm recht zu geben. Weil Juanita rund um die Uhr arbeitet, um Geld zu verdienen, kümmert sich ihre Schwester Aïda um Martha, wenn der Vater nicht da ist. Ihr Name, der auf eine äthiopische Sklavin zurückgeht, scheint sie für ihre Rolle im Hause Argerich zu prädestinieren: Sie schläft in einer winzigen Kammer direkt bei der Küche. Neben ihrer eigentlichen Arbeit ist ihr Tag angefüllt mit Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln. Wenn Juanita einen Kaffee trinken will, ruft sie »Aïda!« … Martha wächst unter ganz normalen Umständen auf. Sie ist ein fröhliches Kind, liebenswert und aufgeweckt.
1944 bringen ihre Eltern sie in einer Art Kinderkrippe unter, die nach den modernsten pädagogischen Lehren geführt wird. Die Leiterin ist eine gewisse Joséphine du Renard, eine wahre Kunstfreundin, die von der Lehre des Philosophen Alain, speziell von dessen Schriften über die Erziehung, völlig durchdrungen ist. Jeden Mittag zur Siesta kommt eine Dame in die Krippe, um den Kindern kleinere Stücke und Wiegenlieder auf dem Klavier vorzuspielen. Angefangen bei ihren kurzen Haaren bis hin zu ihrem entschiedenen Charakter fällt Martha in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. Die anderen kleinen Mädchen tragen Schleifen im Haar, fangen an zu kreischen, wenn man sie erschreckt, weinen, wenn sie hinfallen. Martha ist anders. An ihr ist zwar kein Junge verloren gegangen, aber sie benimmt sich so, als hätten ihre Eltern vergessen, ihr beizubringen, dass Mädchen sich schwach und verletzlich zu zeigen haben. Fasziniert von ihrer Widerstandskraft und Unbeirrbarkeit, stellt ein Spielkamerad sie immer wieder auf die Probe, um hinter dieses verwirrende Geheimnis zu kommen. »Wetten, du kannst nicht auf den Tisch klettern?«, provoziert er sie. Mit zwei Jahren und acht Monaten hat Martha bereits einen gewissen Ehrgeiz entwickelt. Sie zögert keine Sekunde, das Hindernis zu überwinden, um ihrem Herausforderer zu zeigen, dass er mit seiner
Behauptung unrecht hat. Weit davon entfernt, sein Scheitern einzugestehen, denkt sich dieser immer neue Aufgaben für sie aus. Auf einem Bein hüpfend den Hof durchqueren, das Tintenfass vom Regal herunterholen, sich der Länge nach unter einer Bank durchschlängeln … Statt die Kampfansagen, denen sie jeden Morgen ausgesetzt ist, einfach zu ignorieren, fühlt sich Martha erst recht berufen, es dem anderen zu zeigen. Der Junge erweist sich als äußerst erfindungsreich und konfrontiert sie Tag für Tag mit neuen Schwierigkeiten. Eines Morgens ruft er: »Wetten, du kannst nicht Klavier spielen?« Elektrisiert von dieser weiteren Herausforderung, steht die kleine Martha auf und geht in den Schlafsaal, wo sich das Klavier befindet. Sie hebt den Deckel hoch und spielt mit leichter Hand, ohne ein einziges Mal zu stolpern, die Melodie eines der Wiegenlieder nach, die sie regelmäßig nach dem Mittagessen hört. Angestachelt von ihrem
unersättlichen Widersacher, klimpert sie immer mehr Stückchen herunter, bis sie schließlich die Aufmerksamkeit von Mademoiselle du Renard erregt, die
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