Martha Argerich
zwar dermaßen, dass sie sich an den graziösen Linien, die ihre Hände in die Luft zeichneten, und an den tanzenden Schatten, die unter dem Licht der Scheinwerfer erzeugt wurden, regelrecht berauschte. Sie wollte gar nicht mehr aufhören mit ihrer Choreografie, bis die ersten Lacher im Pu-
blikum laut wurden. Rückblickend denkt sie heute, dass sie wahrscheinlich nur den Moment des Spielens hinauszögern wollte.
* Solfeggio (auch Solfège oder Relative Solmisation genannt) ist eine Musiklehre, die vor allem in den USA und Kanada im Gesangs- und Instrumentalunterricht eingesetzt wird. Durch eine intensive Ausbildung in Musiktheorie, insbesondere in Notenlehre, Gehörbildung und Gesang, soll der Lernende dazu befähigt werden, eine Partitur zu singen bzw. zu spielen. Die Gesangsübungen erfolgen auf Vokalen oder auf den Tonsilben do, re, mi, fa, so, la, ti . Angeblich hat der Benediktinermönch Guido d’Arezzo der Ältere (ca. 992–1050) die Methode mit dem Ziel entwickelt, die Gesangskultur der Mönche seines Klosters zu verbessern. [Anm. d. Übers.]
Seltsamerweise zeigte Martha bereits sehr früh Symptome von Lampenfieber. Normalerweise sind sich kleine Kinder noch gar nicht bewusst, was für ein Druck in einer solch exponierten Situation auf ihnen lastet. Martha schon. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie wie ein seltsames Tier beäugt wurde, wenn sie doch einfach nur Musik machen wollte, also etwas ganz Normales und Natürliches. Vielleicht hatte sie aber auch das Gefühl, weniger um ihrer selbst als um ihrer Leistung willen geliebt zu werden. Die Kinder aus dem Viertel sahen sie bereits schief an, weil sie so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Noch dazu hatte sie mit ihrem kurzen Lockenschopf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Beethoven!
Ihr Vater, der zahlreiche Fotos von ihr gemacht hat, schrieb oft einen kurzen Kommentar auf die Rückseite der Abzüge, in dem er in liebevollen Worten die jeweilige Szene beschrieb, einen lustigen Spruch der Tochter zitierte oder eine witzige Geschichte festhielt, die ihm seine Fantasie diktiert hatte. Als Martha mit dem Klavierspiel anfing, hielt er auf der Rückseite einiger Aufnahmen aus dem Botanischen Garten von Palermo fest: »Sie hat sich verändert, unsere Marthita … Sie, die immer so fröhlich war – plötzlich ist sie mürrisch, fast schon ungehobelt …« Wenn sie diese Zeilen heute liest, fragt sich die Pianistin, ob ihre neue Verschlossenheit wohl Ausdruck des Gefühls war, sich gegen den Druck von außen verteidigen zu müssen, oder ob sie sich nicht vielleicht aus freien Stücken dem täglichen Drill aussetzte. »Meine Eltern, meine Lehrer erwarteten sehr viel von mir, aber ich glaube, dass vor allem ich selbst mir zu viel abverlangt habe.«
Am 12. April 1945 bringt Juanita einen kleinen Jungen zur Welt, der auf den Namen Juan Manuel getauft wird, wie sein Vater, aber Zeit seines Lebens immer nur Cacique genannt wurde, nach einem in Argentinien sehr berühmten Indianerhäuptling. Drei Tage nach der Entbindung fängt Juanita wieder an zu arbeiten. Martha empfängt ihren Bruder mit Freuden, fast wie ein Geschenk des Himmels. »Er war der erste Mensch, den ich wirklich geliebt habe«, erzählt sie. Zum Leidwesen des Kleinen nimmt das Talent der Schwester bereits einen großen Raum in der Familie ein. Wenn er mit ihr spielen will, hört er wie einen Refrain stets die gleichen Worte: »Lass deine Schwester in Ruhe üben!« Mit sechs Jahren wird er zu seinen Großeltern ausquartiert, damit er die Künstlerin des Hauses nicht länger stört. Ein harter Schlag für den kleinen Jungen, dem besonders die Trennung von seiner geliebten Tante Aïda schwerfällt. Für Martha ist es eine neue Schuld, die sie auf sich lädt. Das Klavier isoliert, reißt die Familie auseinander …
Mit sieben Jahren möchte auch Cacique seine Musikalität unter Beweis stellen. Wenn Martha Talent hat, warum dann nicht auch er? Warum sollte ihm die besondere Aufmerksamkeit, die seine Schwester genießt, nicht gleichermaßen zustehen? Er übt wie ein Besessener Mozarts Sonata facile und spielt sie ihr eines Tages vor. Er kommt nur stockend voran, man merkt ihm die Plackerei an, seine Wangen glühen vor Stolz. Als Kommentar setzt sich Martha mit dem Rücken zum Klavier, dreht die Arme nach hinten und spielt dasselbe Stück auswendig, ohne eine einzige falsche Note. Zutiefst gedemütigt lässt Cacique für immer die Finger vom Klavier.
1946 bekommt Martha einen neuen Lehrer. Eine
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