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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden« (MEAW 1, S. 231).
    Denken, das an Marx geschult ist, ist gegen habituellkonservative Verzagtheiten ebenso immunisiert wie gegen monokausale Simplifizierungen und damit gerade für unsere vielfach interdependenten Gesellschaften die Bedingung eines jeden Erkenntnisprozesses. Bei, mit und nach Marx können wir lernen, wie unterschiedlichste Kräfte – Illusionen und materielle Verhältnisse, Massenhysterie und Traditionen, Machtstrategien und rebellische Affekte – aufeinander einwirken und Resultate zeitigen, die eigentlich von niemandem gewollt sind und dennoch das labil-stabile Ensemble jener Lebensbedingungen bilden, die uns prägen – und die wiederum von uns geprägt werden. Es ist kein Wunder, daß noch die Klügsten derer, die Marx
verwerfen
, dies meist auf eine Weise tun, die ihr Herkommen von Marx nicht verleugnen kann.
    Und die Marxsche Wissenschaft von den gesellschaftlichen |136| Prozessen ist auch eine Medizin gegen Fachidiotismus jeder Art. Der
Marxismus
ist geradezu das Modell für eine integrale Interdisziplinarität. Wo wären die avanciertesten Gesellschaftstheorien unserer Tage ohne Marx? Wo wäre der französische Strukturalismus ohne die Analyse der subjektlos prozessierenden ökonomischen Struktur, wo die moderne deutsche Systemtheorie ohne die grandiose Beschreibung der automatischen Welt, und was wären die dieser Tage so modernen
Cultural Studies
ohne die Beiträge von Marx inspirierter Kulturwissenschaftler wie Frederic Jameson oder Terry Eagleton? Wie die Ökonomie des »Kapital« nicht von ökonomischen Dingen, sondern von gesellschaftlichen Verhältnissen handelt, so ist die gesamte Marxsche Unternehmung in einem weiten Sinn »Humanwissenschaft«. Die Kultur wird zur Ware, die Ware zur Kultur, der Individualismus zur Massenerscheinung, die Entideologisierung zur Ideologie: Wie ließe sich all das besser beschreiben als mit dem Marxschen Gespür für Paradoxien, für ironische Volten?
    Und wie kann man dies alles wissen und doch nicht in ein tragisches Bewußtsein verfallen, in zynische Abgeklärtheit – wenn jedes Streben nach Eigenem nur in tiefere Verstrickung in das dichte Maschenwerk der äußeren Zwänge führt, das stetige Wachstum der ökonomischen und technologischen Potenzen nur zu größerer Macht aller Verdummungs- und Verblendungszusammenhänge? Gegen Depressionen dieser Art hilft die
Marxsche Geste
: Das Wissen, daß alles, was entsteht, mit Sicherheit zugrunde geht; daß noch im Übelsten das Beste keimt; daß in jedem Rückschritt auch ein Quantum Fortschritt sitzt, im Kleinen das Große. Daß uns die Bäume nicht in den |137| Himmel wachsen, dafür sorgt übrigens ohnehin mit Sicherheit der Umstand, daß all dies auch umgekehrt gilt.
    Gewiß, die säkularisierten Theologeme, die sich in Marx’ Gedankenwelt finden, etwa die messianische Stellung des Proletariats oder der Rest an Heilsgeschichte, der noch im Begriff des Fortschritts sitzt, erscheinen uns heute wie aus einer anderen Welt. Tatsächlich fällt es beispielsweise schwer, am Fortgang von Beethoven zu Dieter Bohlen irgendeine Art von »Fortschritt« zu erkennen (ab gesehen von dem unabweisbaren der »Produktivkräfte« in Gestalt des computerisierten Tonstudios), und auch der Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe ist durchaus diskussionswürdig.
    Und dennoch sollten wir daraus nicht in die Konsequenz eines nur tragischen, depressiven Bewußtseins verfallen. Zwar ist die Geschichte ohne Zweifel kein Heilsgeschehen, an deren Ende die klassenlose Gesellschaft der autonomen Subjekte stünde, aber sie ist doch auch ein aufsteigender, zielgerichteter Prozeß: Zwischen dem Europa des Neolithikum und dem Europa unserer Tage besteht eine Differenz, für die es nicht völlig abwegig ist, den Begriff »Fortschritt« zu gebrauchen. Und so kann uns auch Marx zwar heute keinen kopflosen Optimismus mehr lehren, aber doch eine gewisse selbstbewußte Zuversicht.
    Jeder, sogar der leerste historische Moment ist immer auch ein Beginn, auf den etwas folgt. Was, das ist auf radikale Weise offen. Gerade darum kommt es darauf an, was wir daraus machen.
    Mit Marx denken heißt also am Beginn dieses Jahrtausends, mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse zu |138| denken, die immer auch, wenn schon nicht ihre Negation, so doch rebellische Energien mit-produzieren. Wenn gilt, daß der entgrenzte, raffinierte, auf Wissen basierende

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