Marx fuer Eilige
ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ebensowenig rebellieren kann wie gegen das Gesetz der Schwerkraft« – ohne zu bedenken, daß der Begriff des
Gesetzes
im Kontext der Physik etwas völlig anderes bedeutet als in dem der Gesellschaftswissenschaft. Ein Gesetz ist nämlich für die Wissenschaften von den menschlichen Verhältnissen erstens immer nur etwas, was relativ, höchstens annähernd gilt – und zweitens auch nur unter der Bedingung, daß sich die Umstände nicht ändern, was wiederum in den Händen der Menschen liegt.
Ideologie
erklärt uns also
weniger, was die Menschen genau meinen
und warum sie das tun, sondern steckt vielmehr die Grenzen dessen ab, was innerhalb des Horizonts des Vorstellbaren in einer je konkreten Gesellschaft liegt – und was sich außerhalb dieses Horizonts bewegt. Dabei ist das Vorstellbare immer von
Gesellschaft und Geschichte
festgeschrieben. Oft können die spontanen Selbstverständlichkeiten im heftigen Konflikt mit den eigentlich bekannten Wirklichkeiten in ein und derselben Gesellschaft bestehen. So hat der neoliberale Diskurs es |127| vollkommen einsichtig erscheinen lassen, daß Gemeinwesen reicher werden, wenn sie sparen. Der schlanke, penibel haushaltende Staat erscheint so als der Garant des Reichtums – und das, obwohl jeder Nationalökonom, jeder Anlageberater und jeder Fabrikant weiß, daß man sich in unserer Gesellschaft kaum
reich sparen
, sondern nur
reich investieren
kann.
Wir ahnen also: Auch unsere Epoche, die die Entideologisierung auf ihr Banner geschrieben hat, ist durchdrungen von Ideologie. Es denkt buchstäblich in uns, und wir tun gut daran, unseren Gedanken gegenüber auf der Hut zu sein. 111 Und wir sehen auch, auf welch raffinierte Weise das herrschende materielle Verhältnis die herrschenden Ideen, das Sein das Bewußtsein bestimmt – auf vielfach verzwickte Art und sicher nicht in Form einer Gleichung ersten Grades. Denn die Ideologien, Wünsche, Borniertheiten und Selbstgewißheiten – ganz zu schweigen von den materielleren der »Überbauphänomene« wie Recht, Staat, Kulturindustrie – behaupten ihre Autonomie, wirken wieder auf die unterschiedlichste Weise auf die »ge sellschaftliche Basis« zurück. Kein Wunder, daß der alte Friedrich Engels mit heftigem Zorn auf die jüngeren Marx-Exegeten reagierte, die »zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite legen, als ihr zukommt«.
Wie aktuell dieser alte Streit um »Basis« und »Überbau« ist, zeigt uns fast täglich ein kurzer Blick in die Presse. Ein materialistischer Reflex sitzt tief in vielen von uns, wie ein Vorurteil, das weitgehend immun gegen Argumente ist. Eine Art dumpfer Alltags-Marxismus ist fast zum gesunden Menschenverstand geworden. Daß man sich gefälligst an die
Fakten
zu halten habe, ist das Postulat der |128| vielen bunten Nachrichtenblätter, die das, was sie für
Fakten
halten, dann gerne in Tabellen füllen. Und die Kritik der Ideologie wiederum rann über die Jahrzehnte hinweg in jene
Hermeneutik des Verdachts
aus, die bei Leuten mit anderen Auffassungen als den eigenen nach den Motiven sucht, die sie
in Wirklichkeit
antreiben und diese dann zu ›demaskieren‹. Was immer jemand vorgibt, welche Argumente er immer ins Treffen führt, es sind immer simple ökonomische Motive, die ihn bewegen, um die es »wirklich« geht.
Und da soll noch jemand sagen, Marx sei ein ›toter Hund‹. Es ist nicht mehr zu bestreiten: Wir alle sind heute Marxisten, und sei es auch auf sehr simple Art und Weise. 150 Jahre nach Marx ist ein vulgarisierter Materialismus beinahe zur neuen Theologie geworden, die die ökonomischen Antriebe allen Handelns zu einer Art »unbekann ten Gott« (Gramsci) macht, der alles bestimmt.
Wir können uns vorstellen, wie giftig Marx auf einen solchen
Marxismus der dummen Kerls
reagiert hätte – jener Marx, der, als ihm französische Anhänger einmal auf besonders neunmalklug-doktrinäre Art kamen, mit einer seither berühmt gewordenen Formulierung entgegnete: »Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste« – »alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin«.
Was aber, wenn sich gerade in solchen Entstellungen noch die geschichtliche Kraft der von Marx inspirierten Ideologietheorie erwiese? Denn wenngleich diese ökonomistischen Vorurteile keineswegs eine
Anwendung
des historischen Materialismus darstellen, so läßt sich der historische Materialismus bestens auf sie
anwenden
: Gerade der Umstand, daß viele Menschen sich kaum
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