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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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ad infinitum am Leben – ganz abgesehen von den Anti-Monopol-Gesetzen, die der Staat durchsetzt, womit wir wieder bei einem der modifizierenden Umstände wären, die Marx konsequenterweise beiseite schieben mußte. Auch die zunehmende Verelendung, die Marx als logische Folge des kapitalistischen Prinzips voraussagte – wenngleich er im »Kapital« durchaus eher von relativer denn von absoluter Verelendung |133| ausging – trat so nicht ein; ob es freilich in der Logik der kapitalistischen Produktion als solcher liegt, einen gewissen Aufschwung auch der Lebensqualität der Arbeiter herbeizuführen (wie das von den Hohepriestern der freien Marktwirtschaft behauptet wird), oder ob dies eher Resultat wiederum von modifizierenden Umständen ist, etwa staatlicher Eingriffe, um die Stabilität des Systems zu wahren, oder Konsequenz erfolgreicher Kämpfe der Unterprivilegierten um ihren Teil des gesellschaftlichen Reichtums, sei dahingestellt. Das Faktum ist eindeutig: Die Proletarier haben heute weit mehr zu verlieren als ihre Ketten.
    Und daß der Staat, zumal der westeuropäische Sozialstaat, tatsächlich nichts anderes ist als eine Instanz der Klassenherrschaft, das Instrument der »Diktatur der Bourgeoisie«, der es, nach einer Revolution, im ersten Schritt eine »Diktatur des Proletariats« entgegenzusetzen gelte, die, einmal konsolidiert, nach und nach zum Verschwinden der Staatlichkeit, zum Untergang des Staates führen würde – dies ist eine jener Marxschen Gedankenreihen, die heute wohl nur mehr von den eingefleischtesten Marx-Adoranten vertreten würde.
    Und dennoch bleibt das Marxsche Gedankengebäude auf erstaunliche Weise unberührt von solchen Irrtümern – und selbst vom gesellschaftlichen Wandel. Der ungarische Marxist Georg Lukács hat diesen Sachverhalt Anfang des 20. Jahrhunderts in einem paradoxen Satz zusammengefaßt: »Angenommen – wenn auch nicht zugegeben –, die neuere Forschung hätte die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher einzelner Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte ›orthodoxe‹ Marxist |134| alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen – ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen.« 112
    Marx’ ungebrochene Größe beruht immer noch auf der von ihm geschaffenen Methodik, soziale Prozesse zu verstehen. Und so gilt auch heute: Es gibt keine bessere Weise, denken zu lernen, als Marx zu lesen. Es ist geradezu grotesk, Marx in ein enges doktrinäres Korsett zu zwängen, jenen Marx, für den sich Geschichte in Widersprüchen, überraschenden Paradoxien, erstaunlichen Pirouetten und dialektischen Volten vollzog und der uns deutlich zu machen vermag, daß die Welt nicht ein Komplex von fertigen Dingen, sondern »ein Komplex von
Prozessen
« ist, wie Engels in »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« schreibt (MEAW 6, S. 298). Marx lesen ist ein Heilmittel gegen alle positivistischen Borniertheiten, gegen alle letzten Wahrheiten. Statt dessen gilt: Da es so ist, bleibt es nicht so. Jede gesellschaftliche Lage steht, wie fest sie begründet zu sein scheint, auf des Messers Schneide, immer bereit, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Welt ist stabil, starr verfaßt und unveränderlich? Nein, die Welt ändert sich unentwegt, in ihr herrscht ein Gesetz ewiger Dynamik, hinter dem aber keine metaphysische Wahrheit steckt, sondern einfach die Wechselwirkung von materiellen Zwangsläufigkeiten, individuellen Akten und von Zufälligkeiten. Wir sind am Ende der Geschichte? Man hüte sich vor solchen Voraussagen, wer weiß schon, was das Morgen bringt. Wie eigentlich kann jemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, auch nur der Idee verfallen, |135| der bisherige gesellschaftliche Ordnungsrahmen sei der endgültige, nunmehr unabänderliche – wie kann er gleichzeitig die ewige Innovation, den stetigen und sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel zur Kenntnis nehmen? Wir können nur eines erwarten: das Unerwartete. Und man hüte sich auch, aus den Beschränktheiten der Menschen auf die Beschränktheiten der Zukunft zu schließen. Die Menschen lernen im Vorwärtsgehen, indem sie handeln, praktisch tätig sind. Und in der gesellschaftlichen Praxis, in die sie zugegebenermaßen auch zufällig stolpern können, kommen sie bisweilen schlagartig dazu, wie Marx einmal auf so unnachahmliche Weise sagte, »sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu

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