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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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und eine behutsame Wendung vollzieht. Blöder Satz, dafür könnte er sie jetzt erschießen und sich vor Gericht auf Notwehr und Provokation berufen.
    Hat sie gepfiffen? Hoffentlich nicht, doch der Anblick, der sich ihr bietet, hätte Anlass geboten. Der Mann, der jetzt langsam auf sie zugeht, ist halb nackt. Genau genommen hat er nichts an außer einem Handtuch, das um die Hüfte geschlungen ist. Und sein Körper ist einfach schön, mit genau dem richtigen Maß an Muskeln, Haut und Haaren. Schwarze Haare, auch auf dem Kopf, und grüne Augen. Die Nase ist zu groß und der Mund zu klein, das ist gut, sonst wäre er vollkommen gewesen, nicht auszuhalten in dieser kompakten Schönheit. Er ist sowieso schwul, was soll sie sich aufregen? Exhibitionist scheint er auch zu sein.
    Zwischen ihm und ihr ist nur noch der Schreibtisch. Er bleibt stehen und mustert Anna mit diesem grünen Blick, den sie nicht einordnen kann.
    »Sind Sie Komikerin? Oder bloß ‘ne Einbrecherin? Oder beides?«
    »Nichts von allem. Ich wollte Harry überraschen, und das Fenster stand offen.« Jetzt eine Zigarette, das würde ihre zitternden Hände besänftigen. »Darf ich rauchen?« Er glaubt ihr kein Wort, das ist offensichtlich. Doch er schiebt ihr den Aschenbecher hin, der auf dem Schreibtisch steht. Anna holt sich die Packung aus den Tiefen ihrer Handtasche, das Papier raschelt, das sie hineingestopft hat, und der Handtuchmann spannt alle seinen schönen Muskeln an, vielleicht in Erwartung einer Pistole. Sie hat eine in der Tasche, eine Gaspistole, doch wenn sie die jetzt auf ihn richtete, wäre der Schlamassel noch perfekter. Sie zündet sich eine Zigarette an und setzt sich auf die Fensterbank, weil sie Halt braucht.
    »Es gibt hier wenig zu klauen«, sagt er. »Eine Verwandte?«
    Denk nach Anna, und das schnell. Nur eine gute Geschichte kann sie retten. »Ich will ehrlich sein«, beginnt sie ihre Lüge: »Ich bin spazieren gegangen, und dann sah ich das Haus. Es ist so schön mit diesem verwilderten Garten. Ich dachte, dass ich es vielleicht erwerben könnte. Na ja, und dann konnte ich dem offenen Fenster nicht widerstehen. Ich weiß, das ist nicht in Ordnung, aber ich bin einfach reingeklettert, als ich sah, dass niemand da war. Ich habe nichts angerührt, ich habe mich nur umgesehen. Klingt verrückt, aber das ist die Wahrheit.«
    Grüne Augen, er hat eine entfernte Ähnlichkeit mit Keanu Reeves, aber der Mund ist ein Schönheitskiller. Anna schätzt ihn auf etwa dreißig, sie könnte also seine Mutter sein. Ist sie aber nicht. Er sieht sie an, und dann lächelt er mit diesem kleinen Mund, das steht ihm gut, er wird größer so.
    »Ein bisschen verrückt sehen Sie ja aus. Aber das Haus ist nicht zu verkaufen. Ungeklärte Besitzverhältnisse. Außerdem würde es ein Vermögen kosten, diesen Kasten instand zu setzen.«
    »Denk ich auch. Ich heiße übrigens Anna Marx. Darf ich fragen, wer Sie sind?«
    Er vollzieht eine angedeutete, spöttische Verbeugung. »Rafael. Der Nachname ist polnisch und fast unaussprechbar. Ich wohne hier, im ersten Stock. Dies hier ist Harrys Zimmer, und unterm Dach haust Lily. Sie schläft immer bis Mittag, und Harry ist zum Frühstücken weg. Ich habe geduscht, während Sie hier eingestiegen sind. Reicht das an Informationen?«
    »Doch. Schon. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen respektive aussteigen. Hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, auch wenn die Umstände ungewöhnlich waren.« Anna lächelt ihn strahlend an, ihr Mund wird noch breiter, und dann schwingt sie ihr Bein hoch, um sich stilvoll zu entfernen. Der Gürtel des Trenchcoats bleibt am Fenstergriff hängen, und so kommt es, dass Anna halb aus dem Fenster hängt, ein Bein drinnen und eines draußen, und ihr Körper irgendwo dazwischen in reichlich verdrehter Stellung. Sie flucht, und Rafael beginnt zu lachen, gibt es Schlimmeres, als sich der Lächerlichkeit preiszugeben? Ihre Tasche ist im Weg, wie immer.
    »Wenn Sie mit dem Lachen fertig sind, würden Sie mich dann befreien? Bitte!«
    Sie spürt seine nackte Haut durch den dünnen Mantel und das T-Shirt, als er den Gürtel löst und sie dabei festhält. Ein erotischer Moment, zumindest aus Annas Sicht, und dann fällt ihr die Fünfzig ein, diese vermaledeite Zahl. Sie ist alt. Und frei. Murmelt »Vielen Dank« und will den Abgang vollenden, diesmal richtig, als er sagt: »Wollen wir nicht zusammen frühstücken?«
    »Warum?« Warum fragt sie, statt ihn verführerisch anzulächeln?
    »Einfach so.

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