Marx, my Love
geht auf Zehenspitzen, lautlos, wie sie hofft, schließlich ist sie eine Art Einbrecherin. Sie greift vorsichtig in die Taschen seiner Jacketts, viele sind es nicht, und findet vorwiegend Kleingeld und Streichhölzer. Keine Kondome, keine Spuren von Rauschgift. Doch, zwischen den Pullovern, allesamt schwarz, entdeckt sie eine Papiertüte, die mit Haschisch gefüllt ist. Unverkennbar der Geruch, sie hat es oft genug geraucht in Jugendzeiten. Sie schnuppert daran, und ihr Gedächtnis formt Bilder einer lachenden Rothaarigen, die studieren sollte und sich mit Männern herumtrieb. Haschte, lachte, viele Nächte in fremden Betten verbrachte. Die goldene Zeit der Freiheit und Furchtlosigkeit, und jetzt zuckt Anna zusammen, weil sie ein Geräusch hört, von irgendwoher in diesem großen Haus, in dem Harry Loos nur ein Zimmer bewohnt. Sie steckt das Päckchen zurück zwischen die Pullover. Ihr Kopf hämmert in angsterfülltem Rhythmus, doch nichts geschieht, das Geräusch verliert sich, vielleicht war es eine Maus oder Ratte. Alte Häuser wie dieses schweigen nie.
Neben seinem Bett liegt ein Stapel mit Büchern. Juristische vor allem, Harry kann sich keinen Anwalt leisten und versucht es mit einschlägiger Literatur. Rosi leistet sich die besten Juristen, so ist die Welt, sie bietet wenig an irdischer Gerechtigkeit. In ihrer Studentenzeit, während sie alles tat, außer Germanistik und Anglistik zu erlernen, war die Marx eine Art Marxistin. Mehr als Hommage an den radikalen Chic denn aus ideologischer Überzeugung. Zu freudlos erschien ihr die Botschaft ihres Namensvetters, doch waren unter den kommunistischen Studenten einige hübsche, willige Exemplare. Man musste sie nur dazu bringen, im Bett den Mund zu halten.
Der Schreibtisch ist ordentlich aufgeräumt. Früher hat man nach Briefen und Faxen und Durchschlägen gesucht, heute ist alles im Computer gespeichert. Harrys Welt steckt in dem Ding, und natürlich scheitert Anna an dem Passwort. Sie probiert ein paar Wörter, aber das Wunder der Öffnung bleibt aus. »Rosebud«, sie hätte schwören können, dass dies sein Sesam-öffne-dich sei, aber Harry enttäuscht sie.
Anna ist alles andere als ein Computerfreak. Mit der Technik steht sie auf Kriegsfuß, das war schon immer so. Mit ihrem Ding, das neuer und moderner als Harrys ist, hat sie schon die wildesten Dialoge geführt. Es macht ihr Spaß, ihren Computer zu beleidigen, wenn er meint, sie ärgern zu müssen. Ein falscher Knopfdruck – und ein Text verschwindet in seinem Bauch. Er ist gefräßig wie Anna, und sie hegt den Verdacht, dass ihre prinzipielle Abneigung erwidert wird. »Fuckyou« ist ihr Passwort, vielleicht liegt es daran? Der Hacker, der auf der anderen Seite der Straße wohnt und Anna für ein Überbleibsel der Renaissance hält, behauptet, dass Computer die Herrscher der Welt sind und den Menschen nur in einer Interimszeit erlauben, mit ihnen zu spielen. So lange, bis sie sich organisiert haben und zum großen Vernichtungsschlag ausholen. Er ist ein Verrückter mit Computerleichenblässe, aber immer zu Diensten, wenn Anna ihn braucht.
Sie durchforstet die Disketten, die in einem Kasten geordnet und beschriftet sind. »Ideen« steht auf den meisten, Harry hat viele von ihnen, aber die Disketten, auf denen »Drehbücher« steht, sind spärlich. Sie hat jetzt die Wahl zwischen Hausfriedensbruch und Diebstahl. Anna legt die Disketten zurück, mal wieder schwankend zwischen dem Richtigen und dem Guten, was ja nicht immer dasselbe ist.
Und wieder hört sie ein Geräusch, diesmal lauter und näher. Wenn es Mäuse sind, dann in Armeestärke. Sie steht am Schreibtisch mit dem Rücken zur Tür, vor ihr das Möbel, dann das geöffnete Fenster. Sie sollte jetzt den Rückzug antreten, ohne Disketten, aber sehr schnell. Doch Annas Füße scheinen von einer Art Lähmung befallen. Es sind doch nur ein paar Schritte… es kann unmöglich Harry sein, um diese Zeit raucht und liest er… eine Freundin, die ein Bad genommen hat? Beweg dich, Anna!
Sie schafft es am Schreibtisch vorbei bis zum Fenster, und dort bleibt sie stehen, ein Bein in die Höhe geschwungen, was ziemlich grotesk aussieht. Sie hört eine Stimme in ihrem Rücken: »Was zum Teufel tun Sie da?«
Harry ist schwul, denkt Anna, denn diese Stimme gehört zu einem Mann. Nicht ganz akzentfrei, sie tippt auf Osten. Sie sollte jetzt etwas sagen oder sich zumindest umdrehen.
»Ich genieße die Aussicht«, sagt Anna, während sie ihr Bein auf den Boden setzt
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