Maschinenmann: Roman (German Edition)
hatte er nicht richtig über unsere jeweiligen Stärken und Schwächen nachgedacht. Wenn überhaupt war es in seinem Interesse, mich näher an sich heranzulocken. Und dieser Intelligenzvorsprung war der Grund, warum ich ihn besiegen würde. Ich hob den Arm. Er wusste nicht einmal, dass ich eine Schusswaffe hatte. Keine Frage, die Sache war bald vorbei.
Doch war Carl wirklich so ein schlechter Kerl? Vielleicht nicht. Vielleicht konnte ich ihn überreden, Lola freizulassen und die benötigte psychiatrische Hilfe anzunehmen. Jetzt, da er mir ausgeliefert war, fühlte ich mich ein wenig schlecht. Er hatte doch nur Arme gewollt. Das konnte man ihm nicht zum Vorwurf machen.
»Charlie.« Lola hob die Hand. »Bitte hör ihm zu.«
Ihr Ton war merkwürdig. Überhaupt nicht verängstigt. Und warum sagte sie so etwas? War sie verwirrt? Mir dämmerte, dass Carl sie nicht an den Schultern gepackt hatte, sondern die Hände schützend über sie gebreitet hielt.
»Carl will dir helfen«, fuhr Lola fort. »Er hat mich nicht entführt. Er hat mich gerettet.«
»Was?«
Carl räusperte sich. »Dr. Neumann, das ist jetzt vielleicht nicht angenehm für Sie.«
Knall ihn einfach nieder, dachte ich. Ja, antwortete ein Teil von mir.
»Ich wollte stark sein. Mir war klar, ich kann nicht zurück. Zu meiner Verlobten, Sie wissen schon. Aber ich wollte vorbereitet sein. Falls ich wieder einmal stark sein muss. Deswegen wollte ich die Arme.«
Stockholm-Syndrom? Dieser Begriff stand dafür, dass Geiseln mit ihren Entführern sympathisierten. Ein psychologisches Phänomen.
»Die Sache ist, nachdem ich die Arme hatte, haben sie zu reden angefangen. Erst wollte ich es nicht wahrhaben. Ich dachte, dass ich durchdrehe.«
Hoffentlich hörte Lola gut zu. Und zog die logische Schlussfolgerung daraus: Carl war geisteskrank.
»Sie wollten Dinge zerquetschen. Sie zerschlagen. Ich habe versucht, das den Leuten zu erklären. Aber niemand hat mir zugehört. Die Unternehmensleitung nicht, die Wissenschaftler nicht, diese jungen Leute. Denen waren nur die Arme wichtig. Nach einer Weile habe ich auch mit ihnen geschlafen, weil es wehgetan hat, sie abzunehmen. Einmal bin ich aufgewacht, da hatten sie das ganze Bett verbogen. Wenn ich mich geärgert habe, haben sie einfach zugepackt. Dann haben sie einmal einen Typen an die Wand geworfen. Ich dachte, ich hätte ihn umgebracht. Da wusste ich, ich muss weg. Um Sie zu warnen.« Sein Blick senkte sich auf Lola. Sie neigte den Kopf, um ihn anzuschauen. »Tut mir leid, dass ich Sie in diesem OP-Saal zurückgelassen habe. Ich dachte, Sie sind tot.«
Mir gefiel nicht, was zwischen den beiden ablief. »Lola. Komm. Her. Kurz.«
»Ich habe gehofft, dass mir Lola helfen kann. Damit ich verstehe, was los ist. Deswegen hab ich sie gerettet. Ich hab sie durch die Flammen rausgetragen. Diesmal war ich stark genug. Und ich hatte recht. Sie hat mir sehr geholfen.«
»Lola. Ernsthaft. Komm her.«
»Charlie, kannst du mit deinen Körperteilen reden?«
Eine irrelevante Frage. »Carl. Das ist eine Waffe. Der Arm. Er schießt. Also. Lassen Sie Lola los.«
»O Charlie«, sagte Lola. »Charlie, nein.«
»Alles in Ordnung. Nur. Dem Plan. Voraus.«
»Wir müssen deine Körperteile loswerden.«
»Pardon?«
»Du hast mir doch mal erzählt, dass du nicht überlegen musst, wo du hintrittst; dass die Beine das machen. Das ist schlau, Charlie, so wie deine Arbeit überhaupt, aber es führt zu einem Problem. Gehirne sind plastisch. Sie passen sich an. Wenn man eine Extremität verliert, bleiben die dafür zuständigen Gehirnpartien, die Neuronen, nicht einfach untätig. Sie suchen sich eine neue Aufgabe. Anfang des Jahres hatte ich eine Frau mit einer Unterschenkelamputation, und ich weiß, wie blöd das klingt, aber ihr Sehvermögen hat sich verbessert. Ein Mann konnte auf einmal besser rechnen. Wir achten darauf, dass die Leute schnell mit Prothesen anfangen, damit wir diese Neuronen für die Motorik einfangen, bevor sie woanders landen. Charlie, ich bin der Meinung, dass das mit deinen Maschinenteilen zu mühelos gelaufen ist. Deine Neuronen hatten nichts mehr zu tun. Also sind sie überall gelandet. Kannst du mit deinen Körperteilen reden, Charlie? Haben sie einen eigenen Willen? Ich glaube nämlich, dass du das bist. Dein Unterbewusstsein, das inzwischen nicht mehr ganz so weit unten ist. Aber das ist halb so wild. Wir können dein Gehirn wieder umerziehen, das dauert nur ein bisschen. Mit Physiotherapie können wir deine
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