Maskenball
er einen freien Blick auf die Straße. Wobei ihn das heute nicht sonderlich interessierte. Vielmehr fiel genügend Tageslicht auf seinen Zettel, den er aus der Manteltasche gezogen hatte. Seine Notizen.
Nachdem er bei der Kellnerin seinen Grünen Tee mit ein bisschen Gebäck bestellt hatte, kramte er einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche. Sorgfältig und langsam strich er mit Genugtuung einen weiteren Namen aus. In diesem Augenblick riss die graue Wolkendecke auf, und ein schmaler Sonnenstrahl fiel direkt auf das schon etwas abgegriffene Stück Papier in seinen Händen. Ein Zeichen göttlicher Zustimmung. Er tat recht. Das hatte er immer schon gewusst. Die Blätter fallen.
Leise summend blickte er sich um und trommelte dabei mit seinen langen Fingern unbewusst auf der Tischplatte. Einmal lang, dreimal kurz, einmal lang. Und wieder: Einmal lang, dreimal kurz, einmal lang. In einer Ecke saß ein Mann in seinem Alter und las in einer Tageszeitung. Vor ihm standen unbeachtet eine Teekanne und eine Tasse. Ganz in seiner Nähe hatte eine Frau ihre Einkäufe neben sich gestellt und zog nervös an ihrer Zigarette. Auffällig oft sah sie auf die Uhr und suchte mit unruhigen Augen den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite ab. Die Kellnerin stand hinter ihrer Theke und tippte Botschaften in ihr Handy.
Sorgfältig faltete er den Zettel zusammen und strich ihn glatt, bevor er ihn wieder in die Innentasche seines Jacketts schob. Er schloss die Augen. Er konnte so weit zufrieden sein. Seine Arbeit war fast getan. Ein Name stand noch auf seiner Liste. Nur noch ein Name. Dann war alles geschafft. Aber er brauchte jetzt Zeit. Er musste Kraft schöpfen. Dann würde der Rest ein Kinderspiel werden. Nein, »Kinderspiel« war der falsche Ausdruck. Nichts im Leben war ein Kinderspiel. Es war Ernst, blutiger Ernst. Kinder? Nein, Kinder wären zu solchen Dingen nicht fähig. Er öffnete wieder die Augen und nippte an seinem Tee. Er spürte, wie sich die warme Flüssigkeit in seinem Körper verteilte. Er konnte fühlen, wie sie sich bis in den letzten freien Raum seines Inneren ausbreitete. Er musste lächeln und verschluckte sich dabei. Hustend war ihm klar, die teuflischen Zellen würde er besiegen können. Er hatte die Macht dazu. Nichts würde ihn aufhalten, sie zu töten. Er brauchte nur Grünen Tee dazu.
Sein Körper beruhigte sich wieder und er trank die Tasse leer. Dieses Problem hatte er im Griff. Aber das andere, das machte ihm noch ein wenig Sorgen. Er musste sich einfach beherrschen und Ruhe geben. Nicht immer alles sofort erledigen! Das Ungestüme brachte nur unnötig Unruhe und öffnete vermeidbare Fehlerquellen. Langsam, jetzt. Er hatte Zeit, viel Zeit. Denn die Blätter fallen auch im März. Sorgfältig entwickelte er in dem kleinen Café am Meer seinen Plan für die kommende Zeit. Sein Opfer hatte er längst gefunden. Das war nicht schwer gewesen. Den Ort der Tat würde er selbst bestimmen. Aber das hatte Zeit, bis er wieder zurück war. Nur die Todesart machte ihm noch Kopfzerbrechen. Wie sollte sein Opfer sterben? Möglichst auffällig? Nein, er hatte bei Breuer schon zu viele Fehler gemacht. Vor allem zu viel Aufsehen erregt. Still und leise musste es passieren. Unbemerkt möglichst. Die Voraussetzungen waren gut, denn niemand würde Hecker vermissen. Er lebte allein. Hecker, der letzte Name auf seinem Zettel.
Er malte sich aus, was Hecker in diesem Augenblick wohl tun mochte. Saß er zu Hause in seinem Wohnzimmer und hörte Radio? Vielleicht war er auch unterwegs, auf einem Spazierweg über die Felder. Zwischen Kaldenkirchen und Breyell oder Lobberich. Vielleicht saß er auch im alten Strandlokal am De Wittsee an einem Fensterplatz mit Blick auf das Wasser. Ob dort schon ein Segler still seine Runden zog? Nein, dazu war es noch zu kalt. Er wusste, dass Hecker gerne dort saß und einen Kaffee zu sich nahm. Das hatte er ihm erzählt. Genausogut konnte Hecker aber auch Besorgungen machen. Auf jeden Fall war er völlig ahnungslos. Hecker konnte nicht wissen, dass der Todesbote sich schon anschickte, seine Adresse aufzuschreiben und er nicht mehr viel Zeit zum Leben hatte.
Zufrieden biss er in das kleine runde Stück Gebäck, das ihm mit Sahne serviert worden war. Köstlich. Er sah durch das Fenster des Cafés auf die Straße und freute sich, dass Hecker bald sein letztes Frühstück zu sich nehmen würde. Zum letzten Mal eine Tasse Kaffee trank, zum letzten Mal durch das Dorf gehen, zum letzten Mal auf die
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