Maskenball
hatte ihn wortlos in den Arm genommen.
XII.
Er war zu weit gegangen. Er war über sich selbst zutiefst erschrocken. Diesmal war er zu weit gegangen. Viel zu weit. Das hatte er nicht gewollt. Er starrte müde auf die grauen Wellen. Der Weg zurück hatte ihn viel Kraft gekostet. Viel länger würde er die Anstrengungen nicht mehr ertragen können. Das wusste er. Es war eiskalt an diesem Morgen, und der Wind trieb Schaumbällchen aus Gischt über den Strand.
Wer wusste schon zu sagen, wie lange diese Sonne noch für ihn scheinen würde? Und sei sie noch so kalt. Er drehte sich um und sah den Strand hinauf. Dort trieb der Wind sein Spiel mit den dünnen Gräsern. Die Körper hatten ihr Leben verwirkt. Gut, dass er mit ihnen Schluss gemacht hatte. Gut, gut. Aber beim letzten Leib hatte er sich nicht in der Gewalt gehabt, sich nicht beherrschen können. Wie ein Rausch. Warum bloß hatte er ihn aufschneiden müssen? Hatte er wirklich gedacht, dort drinnen die Wahrheit zu finden? Und wenn ja, welche Wahrheit? Was hieß schon ›Wahrheit‹? Zufällig aneinandergereihte Ereignisse? Er schüttelte sich. Darum ging es nicht. Er hatte eine Mission zu erfüllen. Eine Mission, die für sich selbst stand. Und das war seine Wahrheit, seine eigene kleine beschissene Wahrheit. Das würde niemand je verstehen können und auch nicht müssen. Wer ewig Wahrheit sucht, wird ewig dumm bleiben. Es gab nur seine Wahrheit, und die nur für ihn ganz allein. Er musste niemandem erklären, was er tat. Und das war gut so.
Im Dorf hatten sie sich schon über ihn gewundert. Mal da, und schon wieder weg. Aber das ging sie nichts an. Dafür kannten sie ihn doch zu wenig. Und dafür hatten sie auch genug mit ihrer eigenen Welt und Wahrheit zu tun. Er hustete. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt krank zu werden. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel. Er musste mehr auf seine Gesundheit achten. Mehr Obst, er brauchte mehr Obst. Und Tee. Grünen Tee. Gegen die Krebszellen, die in ihm lauerten. Nachts in seinem Bett konnte er sie hören. Wie sie sich heimlich besprachen, wie sie Strategien festlegten, um ihn in Besitz zu nehmen. Er musste Tee trinken, viel Tee. Damit würde er sie überlisten und klein halten. Er würde selbst den Zeitpunkt seines Abgangs bestimmen, und nicht diese Zellen. Er hatte immer sein Leben selbst bestimmt und sich nicht hineinreden lassen. Bis auf das eine Mal. Das hatte er nicht vergessen. Die ganzen Jahre nicht.
Neue Kraft brauchte er. Er strebte jetzt dem Dorf zu, mit zunehmend ausgreifendem Schritt. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht. Ein Bier würde helfen. Malz gibt Kraft. Das wusste schon seine Mutter.
Er wanderte die Straßen entlang, vorbei an den kleinen Läden, bis zum Hafen. Gegenüber der Hafeneinfahrt, oben auf dem Hügel, lagen, seltsam entrückt, die gleichförmigen Fronten alter Häuser. Ihre mehrstöckigen hellen Fassaden waren verwaschen. Selten ein Fenster mit freiem Blick. Auch lange vorbei, ihre Blütezeit, dachte er, als er angestrengt hinüberstarrte. Selten war er bislang dort oben gewesen. Er hielt es eher mit den einfachen Leuten in den engen Gassen am Hafen. Er ging die Hauptstraße zurück und bog rechts ab, um über die schwenkbare Brücke zu den Geschäften auf der anderen Seite zu kommen. Er hatte Glück, die Brücke war für den Auto- und Fußgängerverkehr nicht gesperrt. Mehrmals am Tag stauten sich die Menschen an der eisernen Brücke, wenn sie den ein- oder auslaufenden Schiffen Platz machte. Von der See wehte der Geruch von frischem Tang und Salz in die Straßen.
Er überquerte die kurze zweispurige Verbindung der beiden Stadthälften und erreichte nach wenigen Metern sein Ziel. Im Fotogeschäft gab er den Film ab, den er schon seit einiger Zeit hatte entwickeln lassen wollen. Die junge Frau hinter dem Tresen grüßte ihn vertraut, denn er kam seit Langem regelmäßig zu ihr ins Geschäft. Ihre gemeinsame Leidenschaft für die Fotografie hatte sie fast zu Vertrauten gemacht. Nur heute hatte er keine rechte Lust auf ein Gespräch. Entsprechend einsilbig antwortete er auf ihre gut gemeinten Fragen.
Froh, wieder auf der Straße zu stehen, nahm er den Weg zurück über die Brücke und suchte das kleine Café im alten Ortskern auf, um einen Tee zu trinken. Die nächsten Wochen wollten gut durchgeplant sein. Er durfte jetzt, so kurz vor dem Ziel, keinen Fehler mehr machen. In dem zu dieser Tageszeit fast leeren Gastraum wählte er wie gewöhnlich einen Platz direkt am Fenster. Von dort hatte
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