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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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hängen, er tat mir leid, er hatte das einzige Gute, was wir jemals zustande gebracht hatten, zerstört und wusste nicht, warum.
    »Da ist kein Humus drin, du Hmar !« Baba brüllte, Saod zuckte zusammen, und ich stöhnte leise. Baba schaute das zerdrückte Brot auf eine Weise an, wie man sonst nur den Leichnam eines geliebten Verwandten, der für immer in einem Erdloch zu verschwinden droht, ansieht.
    »Baba, es ist doch nur Soße …« Ich war fassungslos, so viel Lärm um Humus.
    » Nur Soße? Vielleicht bist du nur der Sohn eines Fabrikarbeiters, der zu nichts taugt, vielleicht bin ich nur ein Flüchtling, der kaum Deutsch spricht, vielleicht ist Saod nur ein Imbissverkäufer, der sich nicht wäscht. Du bist ein Niemand, ich bin ein Niemand, Saod ist ein Niemand. Da draußen ist keiner von uns ein Jemand. Alles, was die Deutschen an den Türken mögen, ist Döner, alles, was sie an den Arabern mögen, ist Falafel.« Baba schnappte nach Luft. »Deshalb ist das nicht nur Soße oder nur eine Falafel, sondern unsere Identität. Wie sieht es denn aus, wenn wir nicht einmal unsere Identität richtig zubereiten können, hä?«
    »Weiß nicht, Baba«, stammelte ich.
    »Was weißt du denn überhaupt?«
    Ich beobachtete Saod, der mit einem verstohlenen Blick eine Schabe zertrat. Der Panzer knackte, und die Kakerlakenreste blieben am bleifarbenen Boden kleben. So schnell konnte es gehen, dachte ich mir. In einem Moment lief eine nichtsahnende rostfarbene Schabe, in der Hoffnung einige Falafelkrümel abstauben zu können, durchs Leben und im nächsten war sie tot – zerquetscht von haarigen Füßen in schwarzen Ledersandalen. Einfach so . Einfach so hatte Saod Gott gespielt und einem Leben ein Ende bereitet.
    »Hörst du mir überhaupt zu, du Träumer?« Babas raue Stimme schallte durch den Raum, er hatte die Stimme eines alten Rauchers, obwohl er nie geraucht hatte. Er sagte immer, nur dumme Menschen, die kluge Menschen reich machten, rauchten.
    »Ja, Baba.«
    »Also, was weißt du nun?«
    »Gar nichts, Baba.«
    »Und was bist du?«
    »Ein Niemand.«
    »Was ist Saod?«
    »Ein Imbissverkäufer, der sich nie wäscht.«
    »Was noch?«
    »Ein Niemand.«
    »Und was noch?«
    »Ein Hmar .« Ich versuchte, Saods bösem Blick auszuweichen.
    »Was ist die Falafel?«
    »Unsere Identität.«
    »Siehst du, du weißt doch einiges!« Babas Blick war voller Leidenschaft, er musste diese Falafel sehr lieben, dachte ich mir. Nie hatte ich meinen Vater so für etwas kämpfen sehen, nie hatte er sich so für mich eingesetzt. Ich war mir sicher, für diese Falafel war er bereit, in den Krieg zu ziehen. Langsam fragte ich mich, ob Saod statt Humus etwas anderes in Babas Brot gemischt hatte.
    Baba sah den Imbissverkäufer an. Saod versuchte, dem eindringlichen Blick meines Vaters auszuweichen, doch Baba fing ihn ein, wie das Fischernetz einen Schwarm Makrelen.
    »Wenn du heute sterben würdest, würde dich außer deiner Frau und deinen Kindern irgendjemand vermissen?« Baba starrte Saod mit großen Augen an. Saods Kopf knickte ein wie ein angebrochener Ast – mit so einer Frage hatte er nicht gerechnet. Baba wartete seine Antwort natürlich nicht ab.
    »Sicher nicht, ein arabischer Hmar weniger in diesem Land! Die Falafel aber würden Menschen auf der gesamten Welt vermissen. Deutsche, Araber, Türken, Russen, Engländer und Amerikaner – alle Nationen würden sich versammeln und um die Falafel trauern und weißt du, warum?« Saod schaute Baba fragend an, er konnte sich nicht vorstellen, dass alle Nationen um die Falafel trauern würden.
    »Die Falafel ist wie John F. Kennedy, wie die Beatles, wie Che Guevara: eine Legende!« Die Ader an Babas Stirn pochte – wie immer, wenn das arabische Temperament mit ihm durchging. Ich war mir sicher, Saod hatte keine Ahnung, wer die Beatles oder John F. Kennedy waren. Er sah aus wie jemand, der von vielen Dingen keine Ahnung hatte, der dachte, alles würde sich nur um seinen stinkenden Imbiss drehen. Ich hingegen wusste, wer diese Menschen waren, denn nichts liebte Baba mehr, als von großen Menschen zu erzählen.
    »Jeder von euch sollte bereit sein, für diese Falafel zu sterben.« Er hielt das Brot hoch wie die olympische Flamme, einige zermürbte Kichererbsen landeten auf der Ladentheke. Alle senkten den Kopf. Wir schämten uns, weil wir nicht bereit waren, für diese Falafel zu sterben, aber wussten, dass Baba sehr wohl bereit war, für diese Falafel zu sterben. Vielleicht nicht für seine

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