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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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verschwimmen. In diesem Moment fühle ich mich an etwas erinnert. An was? Es fällt mir nicht ein. Ich strenge mich an, denke zurück. Es fällt mir einfach nicht ein. Ich denke weiter zurück. An Baba, an meine Mutter, an die Zeit als Niemand, an den heißen Sommertag und den langen Weg nach oben, an dessen Ende ich jetzt vielleicht angelangt bin.

KAPITEL 1
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Ich bin eine Falafel!
«
Ein Mann der Familie hat immer recht. Selbst wenn er unrecht hat, hat er recht.
Aus
Donnie Brasco
    Vermutlich hatte ich eine schlechte Kindheit, so wie die meisten eine schlechte Kindheit haben – über eine gute Kindheit lohnt es sich auch nicht zu schreiben. Eine schlechte Kindheit ist eine hässliche Angelegenheit. Schlimmer aber als die schlechte Kindheit ist die beschissene Kindheit: wenn der Vater prügelt und man an Festtagen den knöchrigen Kopf eines Schafes aufgetischt bekommt, wenn die Mutter weint und man statt Lebensmitteln Spinnweben im Kühlschrank vorfindet. Am allerschlimmsten ist die gestohlene Kindheit – wenn man dich ihrer beraubt und du machtlos zusehen musst. Baba meinte, es gäbe keine schlechten Kindheiten, nur feige Kinder, die ihre misslungene Persönlichkeitsentwicklung irgendjemandem in die Schuhe schieben wollen: dem Vater, der Mutter, den Lebensbedingungen und allem anderen, was zu so einer schlechten Kindheit dazugehören könnte. Aus feigen Kindern, dröhnte Baba dann, würden Erwachsene ohne Rückgrat werden.
    Ich denke, nein, ich weiß , dass Baba mich damit gemeint hatte.
    Eine der ersten Erinnerungen an meine Kindheit ist mein sechster Geburtstag. Für meine Schwester Amani und mich waren Geburtstage ein besonderes Fest, denn es war der einzige Tag des Jahres, an dem wir Geschenke bekamen. Meistens waren die Geschenke genauso bescheiden wie unser Leben in der Pirmasenser Provinz, aber von Zeit zu Zeit, wenn Mama genug Überstunden gemacht hatte, gab es auch mal was Anständiges, wie einen neuen Pullover für mich oder eine neue Puppe für meine Schwester.
    Häufig blieb es bei Spielzeug vom Sperrmüll und Kleidung vom Flohmarkt, doch mir war das egal, denn mein Geburtstag war der einzige Tag im Jahr, an dem Baba und ich zusammen rausgingen, um wie echte Männer einen draufzumachen – was bedeutete, sich bei McDonald’s ein Sparmenü oder beim Türken einen Döner zu bestellen. Für mich war das der beste Tag des Jahres.
    Ich streifte mir die löchrigen, kanarienvogelgelben Turnschuhe über, die ich von meiner Schwester geerbt hatte und auf den Tod nicht ausstehen konnte und aus denen mein großer Zeh herauslugte wie ein geschlüpftes Küken aus der Eierschale. Solche Schuhe verrieten schon von Weitem, welcher gesellschaftlichen Kaste man angehörte – schlechter ging es nur noch denen, die barfuß laufen mussten. Mein Vater und ich machten uns auf den Weg zu einem kleinen Imbiss in der Innenstadt von Pirmasens. Wir hatten kein sonderlich gutes Vater-Sohn-Verhältnis, im Grunde hatten wir uns so viel zu erzählen wie zwei Goldfische im Aquarium, und eigentlich wusste ich gar nicht so recht, weshalb ich mich auf diesen Ausflug so freute. Das war nur Mamas Schuld. Sie und ihr unverwüstlicher Optimismus, den sie uns wie Muttermilch in Form von arabischen Weisheiten verabreicht hatte!
    »Ärgere dich nicht, dass Rosen Dornen tragen, sondern erfreue dich daran, dass der Dornenbusch Rosen trägt«, trällerte sie, und ich fand, dass Baba, der seine Weltuntergangsstimmung wie Streusand in unseren Köpfen verteilte, wie mit Dornen übersät war. Doch dieser kindliche Glaube an das Gute und Mamas ansteckender Optimismus ließen mich hoffen, hoffen auf eine Rose inmitten Tausender Dornen.
    Baba ging hastig voran, eine störrische Haarlocke löste sich aus seiner Mähne, er schnaufte und drückte sie zurück an ihren Platz. Sein volles, ewig unfrisiertes Haar erinnerte mich an die Tolle von Elvis Presley – Elvis, wie er wohl morgens nach dem Aufstehen ausgesehen haben könnte. Ansonsten hatte mein Vater wenig mit einem Paradiesvogel wie Elvis gemeinsam, im Gegenteil, Baba verabscheute Paradiesvögel, er verabscheute alles, was anders war.
    Ich verbannte solcherlei Vergleiche aus meiner Fantasie, denn sie brachten mich zum Kichern. Kichern aber war höchst verdächtig, denn Baba konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn er das Gefühl hatte, man machte sich über ihn lustig – und dieses Gefühl hatte er jedes Mal. Grinsen, lachen oder andere Anzeichen von Freude waren in unserer Familie

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