Massiv: Solange mein Herz schlägt
Kälte sterben, während einige Flugstunden entfernt Menschen nicht glauben wollen, dass es so eine Welt überhaupt gibt, und sich mit Brathähnchen und Kartoffelbrei den Bauch vollschlagen. Einem Fremden würde ich berichten, dass es Väter gibt, die ihren Hass an ihren Kindern auslassen, Kinder, die gezwungen werden, Dinge mit Erwachsenen zu tun, die unaussprechlich sind, Jugendliche, die für einige Euros Rentner überfallen, Mütter, die ihre Neugeborenen aus dem vierten Stock schmeißen.
Sicher, das ist nicht alles, was unsere Welt ausmacht, es gibt auch Helden oder zumindest Menschen, die weder Gutes noch Schlechtes tun und einfach vor sich hin leben, ohne jemandem zu schaden oder zu helfen. Es existiert natürlich auch viel Gutes, doch zu verleugnen, dass es Abgründiges und Abscheuliches gibt, würde bedeuten, in einer Lüge zu leben, die jeder kennt, doch keiner aussprechen will. Für mich sitzt die Wurzel allen Übels in jedem Einzelnen von uns. In dem netten Mathelehrer, dem Nachbarn, dem Vater, dem Polizisten – wir alle haben Wut in uns. Wir sind wütend auf unsere Eltern, den Beamten, der nur seinen Job macht, die Gesellschaft, die Gesetze oder die Vorschriften anderer. Zu behaupten, ich würde gewalttätige Videos drehen, weil unsere Welt einfach schlecht sei, wäre feige. Genauso, wenn ich sagen würde, dass aus diesem Grund ständig neue Games auf den Markt kommen, in denen Jugendliche sich mit dem Joystick als Waffe gegenseitig abknallen, oder dass die Filmindustrie ohne Gewalt- und Actionszenen gar nicht überleben könnte. Vielmehr frage ich mich, was das bedeutet, dass sich Gewalt so gut verkauft oder Soldaten es genießen, wehrlosen Menschen eine Waffe an den Kopf zu halten. Es zeigt, dass wir Gewalt lieben. Wir lieben es, wenn während eines Boxkampfes das Blut richtig spritzt oder wenn in Horrorfilmen jemandem das Gehirn durch die Nase herausgezogen wird. Klar gibt es auch viele, die dann wegschauen, aber meistens nicht, weil sie das, was sie sehen, verurteilen, sondern weil ihnen der Ekel die Galle in den Rachen treibt. Gut ist, wenn wir es schaffen, diese perversen Gedanken von Rache, Hass und Zerstörung ein Leben lang zu unterdrücken. Schlecht ist, wenn wir sie an anderen auslassen oder irgendwann explodieren.
Ohne die Musik wäre ich früher oder später explodiert. Ich wäre an meinem eigenen Hass kaputtgegangen. Wenn sich also einige Politiker über meinen Aufenthalt in Palästina aufregten und sich die Zeit nahmen, öffentlich ihre Meinung dazu zu äußern, fragte ich mich, warum sie sich nicht einmal – mit demselben Engagement – für die Lage in Palästina stark machten. War es gerecht, unschuldige Kinder oder mit Steinschleudern bewaffnete Jugendliche zu erschießen? War es gerecht, Millionen Menschen über Generationen hinweg die Heimat zu nehmen, sie zu vertreiben, zu demütigen, auszubeuten, physisch und psychisch umzubringen? War es gerecht, Menschen wie Tiere in kerkerähnlichen Räumlichkeiten zu halten, gegen alle UN-Resolutionen zu verstoßen und jedes moralische Gesetz der Menschlichkeit abzulehnen? War es noch Verteidigung, wenn Steine gegen Panzer und Kinder gegen Soldaten kämpften?
Die Politiker konnten mir alle mal den Buckel herunterrutschen. Meine Musik hat bewegt. Sie hat es von den MP3-Playern der Kids in die Reden der Politiker geschafft, Konzerthallen in ganz Deutschland gefüllt und Kindern in Palästina Hoffnung geschenkt. Meine Musik hat Deutschland geteilt, Medien und Politiker in Aufruhr versetzt, sie wurde verboten und zensiert und gleichzeitig als Message für den Frieden nach Palästina geschickt. Meine Musik läuft auf MTV, im Radio und auf CDs. Sie weckt Freude und Neid, macht mir Freunde und Feinde. Weder Geld noch Ruhm, weder Absturz noch Verlust können mir dieses Gefühl geben oder nehmen – ich habe bewegt. Wenn dir ein Mädchen ohne Arme zujubelt oder ein Junge mit amputiertem Bein ein Lächeln schenkt und du das Licht in der Dunkelheit siehst, schmerzen die bitteren Worte der Journalisten und Politiker – jene, die das Leben nur vom Hörensagen kennen – nicht mehr.
Am letzten Tag meines Aufenthaltes fühle ich mich seltsam befreit. Ich laufe durch einen Basar, in der Hoffnung, noch auf die Schnelle ein Geschenk für meine Mutter zu finden. In der gesamten Woche hatte ich keine Zeit gehabt, ihr etwas zu kaufen, aber ich musste noch ein Versprechen einhalten. Ich musste meiner Mutter etwas aus Palästina mitbringen. Seit meiner
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