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Matterhorn

Matterhorn

Titel: Matterhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Marlantes
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leer und allein, unter dem langsam grau werdenden Himmel.
    Goodwin fand ihn schließlich und half ihm auf. Sie gingen zum Bunker der Einsatzzentrale, wo Blakely ihnen mitteilte, dass Mellas bis zum Eintreffen eines Captains der neue Kompaniechef sein werde. Falls Mellas sich bewähre, werde er später vielleicht selbst eine Kompanie bekommen – vielleicht sogar die Bravo-Kompanie. Seine erste Aufgabe, sobald der Eiger gesichert sei, werde jedoch darin bestehen, dem S- 1 dabei zu helfen, einen Untersuchungsbericht zu dem Unfalltod zu schreiben.

Kapitel 23
    D ie Operation begann wie geplant um 0600 . Um 1000 hatte die Kompanie Stellungen bezogen, und Mellas hatte drei Spähtrupps losgeschickt. Erst als der Abend mit seinem weichen, verblassenden Licht anbrach, konnte er endlich allein sein. Er versteckte sich hinter dem Stumpf eines weggesprengten Baums und versuchte herauszufinden, was »Sinn« bedeutete. Er wusste, dass es für jemanden, der tot war, keinen Sinn geben konnte. Ein Sinn ergab sich aus dem Leben. Sinn konnte nur aus Entscheidungen und Handlungen erwachsen. Sinn wurde nicht entdeckt, sondern hergestellt. Er verstand, dass nur er allein Hawkes Tod einen Sinn geben konnte, nämlich indem er sich für das entschied, wofür sich Hawke entschieden hatte: die Kompanie. Was er vorher gewollt hatte – Macht, Prestige –, erschien ihm nun leer und bedeutungslos; wer danach strebte, würde nie an ein Ziel gelangen. Nur was er jetzt, in der Gegenwart, tat und dachte, würde ihm die Antwort liefern, also würde er weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft nach Antworten suchen. Schmerzliche Ereignisse würden immer schmerzlich sein. Die Toten sind für alle Zeit tot.
    Er sehnte sich danach, auf Spähtrupp zu gehen, zurück in die Reinheit und grüne Vitalität des Dschungels, wo der Tod als Teil des geordneten Zyklus, in dem er sich ereignete, einen Sinn ergab, bei der leidenschaftslosen Suche nach Nahrung, die den Verlust von Leben mit sich brachte, um Leben zu erhalten. Er dachte an den Tiger, der Williams getötet hatte. Der Dschungel und der Tod waren das einzig Reine im Krieg.
    Der warme Abend war ein Vorbote der auf den Monsun folgenden Hitze, die nun bald kommen würde. Mellas spürte, wie die dunkle Nacht ihn zu umfangen begann wie die Arme einer Frau. Die Horchposten waren draußen, genau wie die größeren, am Himmel funkelnden Sterne. In Richtung Laos schwebten NVA -Leuchtspurgeschosse und Fliegerabwehr-Feuer als schönes Farbenspiel über dem Horizont. Die NVA -Truppen versuchten, einen amerikanischen Piloten zu töten, doch aus der Entfernung wirkte ihr Bemühen nur wie ein in Zeitlupe ablaufendes Feuerwerk. Mellas spürte, wie ein leiser Windhauch aus den Bergen durch das unter ihm liegende, grasige Tal nach Norden raschelte. Er war sich der natürlichen Welt überscharf bewusst. Er stellte sich den Dschungel vor, wie er von Leben pulsierte, wie er Matterhorn, Eiger und all die anderen kahlen Bergkuppen einhüllte und alles bedeckte. Überall um ihn herum wisperten und regten sich die Berge und der Dschungel, als wären sie sich seiner Anwesenheit zwar bewusst, doch diese ihnen gleichgültig.
    Er fing an, Kaffee zu kochen, denn er wusste, er würde das Koffein brauchen, um die Nacht über wach bleiben zu können, und bald würde es zu dunkel sein, um gefahrlos etwas erhitzen zu können. Hawkes alter Konservendosen-Becher fühlte sich vertraut und gut an. Schon mehrmals an diesem Tag hatte Mellas Trost darin gefunden, während er sorgfältig und achtsam Kaffee kochte und dabei an Hawke dachte. Als er damit fertig war, nahm er vorsichtig einen ersten Schluck; der Becherrand war erfreulicherweise so heiß, dass man sich die Lippen daran verbrannte.
    Plötzlich drang ihm ein Rhythmus ins Bewusstsein, den jemand bei den Stellungen unterhalb von ihm auf einer zur Trommel umfunktionierten C-Ration-Kiste klopfte. Es war ein seltsamer, wilder, kräftiger Rhythmus. Er wurde laut, dann wieder leise, behielt seine Heftigkeit jedoch bei. Dann stiegen von der Erde unterhalb von ihm wie Geister leise Stimmen auf, die in unheimlicher, atonaler Harmonie sangen. Während der Rhythmus stärker wurde, wurden auch die Stimmen kräftiger, wenn auch nicht eigentlich lauter. Allmählich konnte er den Text des Gesangs verstehen, als hätte er sich auf dessen Frequenz eingestellt. Der Text ließ ihn frösteln, hob zugleich jedoch seine Seele himmelwärts.
    Die Stimmen sangen die Namen der Toten.
    Wenn’s für Jacobs

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