Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Matzbachs Nabel

Matzbachs Nabel

Titel: Matzbachs Nabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
den Friedhof verschiffte, ragte über die schartige Zwischenmauer, weiter vorn. Matzbach pirschte näher.
    Heinrich Genenger saß am Kopf des offenen Grabes und aß. Die Beine baumelten über dem Sarg. Es war ein schöner Behälter, liebevoll gefertigt aus schimmerndem Kirschbaum. Wider alle Wechselfälle hatte man ihn verriegelt und mit vergoldeten Beschlägen gesichert; ob er einen doppelten Boden und Netz hatte, konnte Matzbach von seiner Lauerposition aus nicht sehen. Die Oberfläche, einen halben Meter unter Genengers Halbstiefeln, war von kundiger Hand ausgeschnitzt worden; hierbei hatte der Künstler die Maserungen des Holzes als Anregung für verschlungene Ornamente genommen. Ein lädierter Regenwurm hangelte sich die Steilwand der Aushebung entlang. Genenger kaute auf einem Hühnerknochen und folgte dem Wurm mit den Augen, bis dieser Rand und Rettung erreichte. Er verschwand unter den Blumenbergen und Kranzstapeln.
    Der Bestatter ließ den abgenagten Knochen auf den Sargdeckel fallen, gluckste und wischte sich die Finger. Das T-Shirt sah aus, als sei dies nicht der erste Wischer gewesen. Jemand hatte in die helle Baumwolle ein zusätzliches G gebatikt; die Aufschrift lautete nun, etwas weniger einfältig, Fruit of the Gloom.
    Aus der rechten Tasche seiner blauen Leinenhose zog Genenger ein Tuch von unentschiedener Farbe und tupftesich Fett aus den Mundwinkeln. Dann seufzte er und langte hinter sich. Am Fuß der efeubewachsenen Bruchsteinmauer stand die Korbflasche mit Rotwein. Die Rollen der Taue, mit denen der Sarg abgelassen worden war, umgaben sie wie einen Poller. Auf dem Weg am Fußende des Grabs stand der vierrädrige Gondelkarren. Mit Goldlettern auf schwarzem Feld im allgemeinen Purpur stand C HARONS G O-CART zu lesen.
    Julisonne stichelte durch die Zweige der trauernden Weiden. Genenger blinzelte, setzte die Flasche ab, stellte sie wieder zwischen die Taue und entriß dem toten Vogel das zweite Bein.
    Mittagsglast lag auf allem. Seit dem Verschwinden des Regenwurms bewegten sich in weitem Umkreis nur noch Genengers Kinn und Kaumuskeln. Der Himmel war blau und gnadenlos. Unter einem Dornbusch weiter weg am Fuß der Mauer hockte eine eingestaubte Krähe. Sie hielt den Kopf schief und starrte auf die Kränze, reglos und gleichmütig. Auf einem vorspringenden Mauerstein döste eine Eidechse. Die Luft schien geschichtet oder gestapelt, wie die Kränze; eine Gruppe von Espen am Nordende des Friedhofs stand gefroren. Unbeschattete Randsteine von Gräbern gaben die gespeicherte Hitze wabernd ab. Zehn Meter von Genenger entfernt schlummerte, auf einer grauen Platte, eine Kreuzotter.
    Genenger ächzte abermals. Schweiß troff ihm von der kahlen Stirn in die Augen. Er legte den Rumpf des Huhns zurück ins Weidenkörbchen, aus dem Weintrauben und das Ende einer Baguette lugten.
    Matzbach räusperte sich, warf die Schuhe über Mauer und Grab gegen die Gondel und stemmte sich auf die Steine. Die Kreuzotter bewegte sich unruhig, zögerte und glitt von ihremwarmen Stein. Sie verschwand unter dem Stechginster zwischen zwei Gräberreihen. Die Eidechse huschte unter Efeu, und die Krähe zog sich langsam auf die andere Seite des Dornbuschs zurück, seitwärts trippelnd. Genenger wandte den wuchtigen Schädel.
    Baltasar balancierte barfuß das Grab entlang zu Charons Gondel und zog die Socken aus der Tasche. »Na, du Mastbaum der Pietät. Schmeckt’s wenigstens?« Er säuberte die Füße, zog die Socken an und stieg in die Schuhe.
    »Mhmhmhm.«
    Matzbach wippte auf den Zehenspitzen. Unter dem Druck seiner wuchernden Pfunde sanken die weichen braunen Lederslipper in die weiche braune Erde. »Nett hast du’s hier.« Er überflog das Arrangement von Grube, Bestatter und Zubehör und nickte. »Doch ja, fürwahr.«
    Genenger schlug die Zähne ins Hühnerbein, kaute und wedelte mit der freien Hand. »Setz dich wenigstens. Du stehst mir in der Sonne.«
    »Pah. Du bist farbenblind, die Sonne steht senkrecht, und das hier ist keine Tonne. Außerdem – wer war denn Alexander? Aber bitte.« Er ließ sich auf dem Verschalungsbrett am Fußende der Grube nieder und deutete mit dem Schuh auf den Sarg. »Da hat wohl eine Einwanderung stattgefunden, wodurch sich die Entvölkerung ausgezeichnet vermehrte, wie?«
    Genenger nickte stumm und kaute.
    Matzbach studierte die Kränze zu seiner Rechten, zupfte an den bunten Schriftschleifen, rupfte eine Rose aus einem Gebinde und steckte sie sich hinters Ohr. Dabei kicherte er. »Tolle

Weitere Kostenlose Bücher