Maya und der Mammutstein
wäre, würde er sie doch nehmen. Wer sollte ihn daran hindern?
Denn obwohl ihm beizeiten immer noch nicht ganz wohl dabei war, zweifelte Geist nicht daran, daß er über große Macht verfügte. Sein Leben hatte sich wahrhaft geändert an jenem Tag, als Alter Zauber ihm seinen Namen gegeben hatte. Mit einemmal waren seine dunklen Momente, wenn er auf dem Boden lag und zitterte, wenn Speichel von seinen Lippen troff, keine Zeichen des Bösen mehr. Nun zogen sich die Männer mit ehrfürchtigem Schauder zurück, wußten sie doch, daß die Geister selbst Besitz von seinem Körper ergriffen hatten und zu ihm sprachen mit ihren Geisterzungen.
Das Volk schätzte sich glücklich, bald einen Schamanen zu haben, der so offensichtlich über magischen Zauber verfügte wie Geist. Geist selbst hatte das neugewonnene Ansehen am meisten genossen und besonderes Vergnügen an kleinen Racheakten gefunden, die er nun an jenen auszuüben vermochte, die ihn am schlimmsten gequält hatten. Junger Werfer, der Anführer der Jungen, fand eines Morgens beim Erwachen ein merkwürdiges Zeichen auf das Fell am Eingang des Zeltes seines Vaters gemalt, und draußen vor dem Zelt hatte Geist gehockt und ihm rätselhaft zugelächelt.
»Ich habe es geträumt«, erklärte er Altem Zauber. »Ein Geist hat mir aufgetragen, das Zeichen dort anzubringen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.« Dann, mit einem Seitenblick auf Werfer, der ein paar Fuß von ihm weg vor Entsetzen zitterte, fügte er hinzu: »Ich glaube allerdings nicht, daß es ein wohlwollender Geist war.«
Mit der Zeit war ihm allerdings solch kindische Rache langweilig geworden. Je mehr er das Ausmaß seiner Fähigkeiten begriff, desto weniger verspürte er den Drang, seine Überlegenheit so greifbar zu demonstrieren.
Die unveränderliche Grundlage der Macht eines jeden Schamanen waren die Geister, und über diese herrschte die Große Mutter, die sie erschaffen hatte. Doch es gab auch noch andere, eher weltliche Stützen, auf denen seine Autorität beruhte. Weisheit war eine dieser Stützen, und Geists agiler Verstand, der durch die Zurückweisung so vieler Jahre ausgehungert worden war, saugte die Überlieferungen auf wie ein trockener Schwamm. Er lernte die Geheimnisse von Wurzeln und Beeren, Rinde und Gras kennen. Er beschäftigte sich mit den Eingeweiden der Tiere und mit der weichen Masse in ihren harten Schädeln. Er lernte Gesänge und Lieder und Weisen auswendig, die immer nur von Schamane zu Schamane überliefert worden waren.
Er fand heraus, wie die Furcht vor dem Unbekannten den Inhalt der Därme auch des stärksten Jägers in Wasser verwan deln konnte, und welch unglaubliche Macht ihm gegeben war, diese Furcht zu erwecken oder zu lindern.
Die Heftigkeit seines Wissensdurstes war erschreckend, und mehr als einmal ertappte Alter Zauber sich dabei, daß er darüber nachgrübelte, was er da auf das Volk losgelassen hatte. Doch jedesmal, wenn er ins Grübeln geriet, wischte der alte Schamane seine Bedenken beiseite. Geist verfügte wirklich über außergewöhnliche Fähigkeiten. Er würde ein großer Schamane werden.
Wenn Alter Zauber nur darauf stoßen könnte, was Geist trotz allem fehlte, wenn er nur ein Mittel finden könnte, diesen Mangel zu heilen.
Schließlich jedoch tröstete er sich mit der Tatsache, daß er wirklich keine Wahl gehabt hatte. Es waren die Geister gewesen, die ihm Geist gegeben hatten, und ihre Wege konnten die Menschen nie vollständig begreifen.
Vor Geist verheimlichte er seine Zweifel daran, den richtigen Nachfolger erwählt zu haben. Es war immer noch Zeit.
Nun näherte sich Geist dem Knäuel verdrießlicher Jäger und Alter Beere, die vor ihnen stand und immer noch ihre zwei Bündel trug. Ein Seufzer der Erleichterung ging bei seinem Anblick durch die Versammelten, denn er trug alle Symbole der Macht eines Schamanen bei sich.
Ein wundervolles, fein gegerbtes Rentierfell hüllte ihn von den Schultern bis zu den Füßen ein. Oben auf seinem schmalen Schädel thronte der Schädel jenes Rentieres, weiß wie jungfräulicher Schnee, und ein gewaltiges Geweih stand drei Fuß breit auf jeder Seite ab. In der einen Hand hielt er eine mit Löwenzähnen gefüllte Rassel, in der anderen einen kleinen, aber perfekt behauenen Zeremonialspeer.
Er schritt geradewegs auf Alte Beere zu, wobei er die tiefen Furchen bemerkte, die der Kummer in ihre alten Züge gegraben hatte. »Du hast mich gerufen«, sagte er kurzangebunden. »Was willst du?«
Geists Gewand blieb
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