Maya und der Mammutstein
solche Dinge unvermeidlich. Die Frauen in ihrer Überheblichkeit als Wächterinnen des Geburtsgeheimnisses vergaßen, daß ohne die Magie der Geister selbst der Schutz der Großen Mutter nicht ausreichte.
Sie würden ihn bald genug rufen. Widerwillig wälzte er sich aus seinen Fellen, die Kälte ließ ihn zittern. Ganz anders als die anderen des Volkes war Geist sehr dünn, und ihm fehlten die dicken Fettschichten unter der Haut, die gegen die schlimmste Kälte schützten. Dies war nur eins der vielen Dinge, die ihn von den übrigen seines Volkes unterschieden, ihn als >anders< brandmarkten. Auf diese Eigenheiten war er letztendlich mehr als stolz, denn sie hatten ihn vor einem Leben in wahrem Elend gerettet.
Alles, woran er sich aus frühester Kindheit erinnern konnte, waren Schläge und Spott von seifen der übrigen Jungen. Kleiner als die anderen und mager wie ein Grashalm, war er die natürliche Zielscheibe grausamer Scherze und harter Spiele gewesen. Das allein war schon schlimm genug gewesen. Doch dann, im Alter von zwölf Jahren, als die anderen sich im Gebrauch von Speer und Axt geübt hatten, war er während einer Jagd zu Boden gestürzt und auf dem Rücken liegengeblieben und hatte wie ein stacheliges Schwein gegrunzt - und sein Leben war zu einem entsetzlichen Alptraum geworden.
Und was das schlimmste war, daß er selbst sich nicht mehr an diesen Vorfall zu erinnern vermochte. Sein Vater, ein grobschlächtiger Mann mit Namen Löwe, der sich bereits ob des weibischen Sohns, den er gezeugt hatte, zu Tode schämte, erzählte ihm nichts von dem, was geschehen war.
So kam es dazu, daß er völlig alleingelassen war, gemieden und in panischen Schrecken versetzt, als die anderen Jungen ihm »Dämon! Böser Geist!« nachgerufen und abfällige Gesten hinter seinem Rücken gemacht hatten.
Das war der Zeitpunkt gewesen, als seine Träume eingesetzt hatten. Da ohnehin niemand mit ihm sprach, war es nicht schwer gewesen, die Träume für sich zu behalten. Doch er hätte sie auch sonst mit niemandem geteilt, denn die Träume waren das einzig Schöne in seinem erbärmlichen Leben.
Die Träume! Zu Anfang waren es nur Farbblitze gewesen, so grell, daß sie ihm den Atem verschlugen. Dann später, waren die Träume klarer geworden, er hatte fremdartige Wesen gesehen, die um ihn herum tanzten und manchmal gar mit ihm redeten, in einer Sprache jedoch, die er nicht verstand. Er war zu jung und zu unwissend, um die Bedeutung der Träume begreifen zu können. Die wunderlichen Wesen, halb Mensch, halb Tier, die in seinem Schlaf zu ihm kamen - und manchmal sogar in seinen wachen Momenten -, waren für ihn nichts anderes als Gestalten, die willens waren, ihn als Gleichgestellten zu behandeln. Zumindest sprachen sie mit ihm, wenn niemand sonst dies tun wollte.
Sein Leben in Hohn und Spott dauerte noch für ein weiteres elendes Jahr an. Er fand sich mit einem Dasein als verachteter Außenseiter ab und rechnete stets damit, ganz und gar vom Volk verstoßen, zurückgelassen zu werden, um allein zu jagen oder zu sterben - bis sein Leben eine Wende nahm. Er hatte sich angewöhnt, hinter den anderen Jungen herzuschleichen, wenn sie kleinere Tiere jagten, ihre Bewegungen nachzuahmen und in der Einsamkeit seines Herzens so zu tun, als gehöre er noch zu ihnen. Die Jungen stürzten hinter hakenschlagenden Hasen her, stellten sich dabei vor, daß sie das große Mammut oder, noch schrecklicher, den langzahnigen Löwen jagten, des sen Klauen so lang wie die voll ausgestreckte Hand eines Mannes waren. Er folgte ihnen mit etwa zwanzig Stocklängen Abstand, und die Sonne brannte auf ihn hinunter, und sein Geist war voll von quälender Sehnsucht.
Ein Hase sprang aus dem dichten Gras hoch und eilte, in dem Bestreben, seinen Jägern zu entkommen, einen Hang hinab, der ursprünglich die Uferböschung eines Flusses gewesen war, jetzt jedoch, nachdem das Wasser versiegt war, nur eine knochentrockene, zerklüftete Wunde in der sanften Hügellandschaft der Tundra darstellte. Lachend und schreiend stürzten die anderen Jungen hinter dem Tier her, ihre Speere schwenkend.
Als er den Rand der Senke erreichte, blieb er, der Außenseiter stehen und beobachtete das Spiel der anderen zu seinen Füßen, das sich zu einem ausgelassenen Ringkampf entwickelt hatte. Der Hase war nirgends zu sehen. Sehnsüchtig betrachtete er das Gerangel, und in diesem Moment wollte er nichts so sehr, wie nach unten eingeladen zu werden, sich den anderen anschließen zu
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