Maya und der Mammutstein
Lippen. »Ich«, sagte sie immer und immer wieder. »Ich, ich, ich...«
»Maya.«
Sie sah nicht auf. Es schien so viel besser zu sein, sich in die warmen Felle zu kuscheln, ihrem eigenen Wehklagen zu lauschen, als würde es von jemand anderem ausgestoßen...
»Maya. Was machst du da?«
Endlich drangen die Worte durch den Nebel der Verzweif lung, der ihren Geist einhüllte. Sie blinzelte. »O Wolf.«
Ihr Bruder ließ sich vor ihr auf die Knie fallen. Seine Nähe wirkte tröstend auf sie. Sie waren am gleichen Tag geboren und hatten immer viele Geheimnisse geteilt, sich in letzter Zeit jedoch, nachdem er seine neue Rolle unter den anderen männlichen Jugendlichen des Volkes eingenommen hatte, ein wenig auseinandergelebt.
»Bist du in Ordnung?« Er berührte sie sanft an der Schulter. Als sie unwillkürlich zurückzuckte, flackerte Besorgnis in seinen schwarzen Augen auf. Im Gegensatz zu seiner Schwester war an ihm nichts seltsam oder anders. Schon jetzt sah er seinem Vater, Haut, sehr ähnlich. Er war ein hübscher Junge, mit stark hervortretenden Wangenknochen und glänzendem schwarzen Haar, und auf seinem sonnengebräunten Gesicht lag meist ein fröhlicher Ausdruck. Er lächelte viel, und wenn er lachte, kam dieses Lachen tief aus dem Bauch.
Maya liebte ihn sehr.
»O Wolf.« Sie seufzte. »Haßt du mich auch?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, du hättest dich nicht von den Frauen wegstehlen dürfen, aber ich kenne dich. Du kannst nichts dafür, du tust nun mal dauernd solche Dinge. Ich wünschte, ich wäre dagewesen ...«
Neues Entsetzen packte sie. Es war schon schlimm genug, daß das, was sie getan hatte, für zwei der Menschen, die sie am meisten geliebt hatte, so verhängnisvoll gewesen war. Aber wenn sie auch noch Wolf so hätte sehen müssen... Sie brach in Tränen aus.
Da legte der Junge seinen Arm um sie und zog sie an seine Brust. »Weine nicht, Maya. Nicht weinen. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich hätte dich beschützt«, sagte er fest.
Nach einer Weile schniefte sie und putzte sich die Nase am Ärmel ihres Überwurfs ab. »Mutter... Knospe...«
Er brachte die Frage in Gedanken zu Ende. Die Antwort trieb ihm die Tränen in die Augen, doch er bemühte sich, diese zu verbergen. »Der Schamane singt sie jetzt heim zu ihr. Hörst du es nicht?«
Sie konnte nichts anderes mehr hören, nichts außer diesem trübseligen Klagegesang. Wie dumpfer Donner erfüllte er ihre Ohren, ihren Kopf, ihr Herz. Sie konnte das gräßliche Bild in ihrem Geist sehen: das Volk, im Halbkreis versammelt um zwei formlose, stille, in Rentierfelle gewickelte Bündel, auf einer Totenbahre aus Stöcken und Holzscheiten ruhend. Um die Leichen herum würden Gaben des Volkes liegen: kleine Holz-schnitzereien, behauene Steine, sogar Waffen, die die Männer opferten.
Dinge, die die Toten brauchen würden oder die sie gegen das, was sie brauchten, würden eintauschen können, wenn sie zurück zur Großen Mutter gingen.
Maya nickte und blickte zu ihrem Bruder auf. »Denkst du...« Sie unterbrach sich, zu Tode erschrocken bei dem Gedanken, der ihr soeben gekommen war. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Werden sie zurück zu ihr gehen, was glaubst du?«
Nun war es an ihm, sich erschrocken zu zeigen. »Natürlich werden sie das! Wo sollten sie wohl sonst hingehen?«
Ihr war da eine Idee gekommen, und die entsetzte sie mehr als alles, was am vorangegangenen Tag geschehen war. »Was ist, wenn Sie sie nicht aufnimmt... meinetwegen? Was ist, wenn ihre Geister umherwandern müssen, wenn Sie sie nicht zurücknehmen würde?«
Das war ein fürchterliche Gedanke, aber deshalb nicht unbedingt abwegig. Maya wußte mehr über die Geister, als ihr zu diesem Zeitpunkt lieb gewesen wäre. Sie hatte zu Füßen von Altem Zauber gesessen, als er ihr die Lieder vorgesungen und uralte Geschichten rezitiert hatte - sie hatte ihm gelauscht,
ohne sich bewußt zu machen, daß sie damit einen großen Schatz an Überlieferungen des Volkes in sich aufgesogen hatte. Ihr kindlicher Geist war noch nicht in der Lage, all das zu deuten, aber es war da, in ihr, ein Durcheinander von Geschichte und Legenden und Wissen. Geister. Die Geister umgaben das Volk wie ein Dunst - sie lebten in allem, von den großen Tieren, die sie jagten, bis hin zu dem kleinsten Käfer im Gras. Es gab Geister in Bäumen und Blumen. Geister des Windes und des Lichts und des Donners. Geister des Eises und des Feuers.
Geister des Volkes.
Die Große Mutter hatte sie alle
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