Meade Glenn
Jetzt rief er ihren Namen, als er in dem von Kugeln durchlöcherten Wrack lag. Und er betete zu Gott, dass man ihn finden möge, ehe er verblutete.
3
Montreal, Kanada
9. November, 21.00 Uhr
Ein gespenstischer Schneesturm fegte über die Brücke des estländischen Frachters Tartu. Kapitän Viktor Kalugin rauchte eine Zigarette und machte es sich im Warmen hinter den Fenstern gemütlich. Er hob sein Fernglas und beobachtete den Hafen von Montreal, der eine knappe Seemeile entfernt in der Dunkelheit des St.-Lawrence-Stromes lag.
Die Metallplatten des rostigen Sechzehntausendtonnen-Schiffes bebten und knarrten unter seinen Füßen, als er auf die Skyline der beleuchteten Wolkenkratzer schaute, deren gigantische Schatten sich im Fluss spiegelten. Über diesen Fluss waren 1642 französische Siedler unter der Führung von Maisonneuve in Quebec losgesegelt, hatten Montreal gegründet und einen wunderschönen natürlichen Hafen angelegt.
»Noch fünfzehn Minuten bis zum Hafenbecken«, rief der Erste Offizier.
Kalugin hielt diese Schätzung für richtig. Es herrschte eine leichte Dünung, und die Windstärke lag bei acht Knoten. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Der Erste Offizier war ein zuverlässiger, erfahrener Mann, der den Seeweg hier am St.
Lawrence genauso gut kannte wie sein Kapitän. Kalugin ließ das Fernglas sinken, zog nervös an seiner Zigarette und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. »Übernehmen Sie. Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich in meinem Quartier.«
Kalugin stieg die Metallstufen zu seinem Quartier hinunter. Die Kabine diente ihm acht Monate im Jahr als Zuhause. Die Fotos von seiner Frau und seinen beiden Söhnen auf dem Schreibtisch erinnerten ihn an das andere Leben in Estland. Nachdem er fünfzehn Jahre lang in der russischen Marine gedient hatte, war er aus der Armee ausgetreten und hatte einen Kapitänsjob bei einer privaten Schifffahrtsgesellschaft angenommen, deren Sitz in Tallinn war. Heutzutage musste man jeden Job annehmen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Und vor lauter Gier nach Geld setzte Kalugin an diesem kalten Novemberabend seine Karriere aufs Spiel, als er den Schreibtischschlüssel aus der Hosentasche zog und eine Schublade aufschloss. Unter einem dicken Stapel Papie r lag ein Schlüssel. Er hing mit einer kleinen ovalen Messingplatte an einem dünnen Metalldraht, damit Kalugin ihn nicht verlor. Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche und schloss die Schublade zu. Darm verließ er seine Kabine, schloss die Tür hinter sich und ging mit besorgter Miene über den Gang zu der Kabine auf der Backbordseite.
Kalugin klopfte zweimal an die Tür und nach einer kurzen Pause noch zweimal, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte und die Kabine betrat. In der engen, mit zwei Kojen ausgestatteten Kabine war es dunkel. Das Licht ging flackernd an, als der einzige Passagier der Tartu sich teilnahmslos aufrichtete und Kalugin die Tür hinter sich schloss.
Der Russe war nicht besonders groß, hatte aber einen kräftigen, durchtrainierten Körper und ein hübsches schmales Gesicht. Kalugin wusste nicht, aus welchem Ort der Russe genau stammte, denn der Passagier hatte auf der zehntägigen Fahrt kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Diese Kabine war während der Reise sein Zuhause gewesen. Nur ein elektronisches Schachbrett hatte ihm geholfen, sich von den rauen Wellen des Atlantiks abzulenken. »Am besten, Sie machen sich schon mal fertig. Wir legen in fünfzehn Minuten an.«
Der Russe nickte. Er zog sich sofort einen dunkelblauen Blouson an, denn er hatte es eilig, die stickige Enge der Kabine zu verlassen.
»Sie wissen, was Sie zu tun haben«, sagte Kalugin. »Sie machen keinen Schritt, bis die Hafenbeamten und die Mannschaft von Bord gegangen sind. Wenn Sie das Schiff verlassen, sprechen Sie mit niemandem ein Wort. Senken Sie den Kopf und folgen Sie der Besatzung. Ihre Papiere sind in Ordnung. Sie dürften keine Schwierigkeiten bekommen.
Anschließend sind Sie auf sich selbst gestellt.«
»Danke für Ihre Gastfreundschaft, Kapitän.«
Dies war der erste vollständ ige Satz, den der Mann zu Kalugin sagte, seit er an Bord gekommen war. Der Kapitän konnte den Akzent nicht einordnen, doch im Grunde war es ihm auch gleichgültig. Er brummte etwas und legte seine Hand auf den Türknauf. »Ich komme zurück, wenn es Zeit für Sie ist, von Bord zu gehen. Bis dahin ist es wohl am klügsten, wenn Sie sich in der Kabine einschließen.«
Zwanzig Minuten, nachdem die
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