Medea. Stimmen
törichte Presbon. Diese in ihrem Haß verblendete Agameda. Hemmungslos folgen sie ihren Trieben. Welche Lust wäre es mir gewesen, sie mit ihrer gehässigen Denunziation nicht nur abzuweisen, sondern sie wegen übler Nachrede steinigen zu lassen. Wenn diese Person, Agameda, wüßte, was für luststeigernde Bilder ich vor meinen Augen ablaufen lasse, während ich sie befriedige. Doch lebe ich nicht, um meiner Lust zu folgen. Ja, sagt Medea. Ich weiß. Das ist euer Unglück.
War sie schon immer so? Ist sie mit der Zeit, die sie bei uns verbracht hat, dreister geworden? Habe ich, weil ich ihr vieles nachsah, einen Anteil daran? Das meint Turon, mein junger Adlatus, der sich zielgerichtet zu meinem Nachfolger aufbaut, mit anderen Mittelnallerdings, als ich, als meine Generation sie für erlaubt hielten. Diese Jüngeren kennen keine Skrupel, manchmal kommen sie mir vor wie junge wilde Tiere, die durch ein Dickicht streifen, mit geblähten Nüstern nach Beute schnüffelnd. So etwas sage ich Turon ins Gesicht. Er zieht dann eine Grimasse, als hätte er Zahnschmerzen, und fragt ganz unverfroren, ob das Leben in unserer schönen Stadt Korinth etwa nicht einem Dickicht gleiche. Ob ich ihm einen einzigen nennen könne, der nach oben gekommen ist, ohne die Gesetze des Dikkichts zu befolgen. Ob ich einem zur Leitung des Gemeinwesens begabten jungen Mann, der nicht verwandt sei mit dem Königshaus oder der nicht Fürsprecher in den höheren Kreisen habe, wirklich raten würde, brav alle Regeln, Gesetze und moralischen Gebote einzuhalten. Er hielt mir sein blankes, freches, von keinem Kummer, keinem Zweifel getrübtes Gesicht hin. Ich mußte mich abwenden, um nicht hineinzuschlagen.
Was wir kaum denken, sprechen die aus. Soll man das ehrlich nennen. Ich sprach mit Leukon darüber, der beinahe gleichzeitig mit mir als sehr junger Knabe bei den Astronomen des Königs in die Lehre genommen wurde, wir begegnen uns immer seltener, ich dränge mich nicht danach, ihm zu begegnen, ich glaube, er hält sich insgeheim für das Gewissen von Korinth. Ehrlich? sagte Leukon. In diesem Fall könne man Ehrlichkeit nicht von Unverschämtheit unterscheiden. Die Methode von Leuten wie Turon sei es doch, die Mittel, die die Älteren zu anderen Zwecken entwickelt hätten, kühl gegen uns zu benutzen. Und ein anderes Ziel außer ihrem eigenen Fortkommen hätten sie ja nicht.
Das war freundlich von Leukon, daß er »uns« sagteund mich mit einschloß. Wir wußten beide, ich gehöre nicht mehr zu denen, die Leukon meint. Alles kann man nicht haben, erster Astronom des Königs sein und mit einem wie Leukon auf vertrautem Fuße stehen.
Spätestens als die Sache mit Iphinoe passierte, mußte ich mich entscheiden. Leukon hat selbstverständlich zu der Gruppe von Korinthern gehört, die nicht abließen, nach Iphinoe zu fragen. Es soll so etwas wie eine Verschwörung gegeben haben, sie wurde zerschlagen, daran hatte ich keinen Anteil. Leukon wurde jenem Kreis von Astronomen zugeteilt, die ihr Leben mit der Beobachtung der Gestirne verbringen, die unsere Sternkarten vervollständigen und sich jeder Deutung, wie der Politik überhaupt, zu enthalten haben. Das kam ihm anscheinend zupaß, dort sammeln sich natürlich die begabtesten, auch die spöttischsten Leute, sie diskutieren unter sich entlegene Themen, es herrscht ein lockerer kameradschaftlicher Ton. Ich denke natürlich nicht daran, Leukon merken zu lassen, wenn angesichts seines geruhsamen, nur seinen eigenen Maßstäben verpflichteten Lebens ein Anflug von Neid über mich kommt. Man kann nicht alles haben.
Übrigens bin ich vor seiner Tür im Turm Medea begegnet. Das gefällt mir nicht. Was bahnt sich da an. Falls sie bei ihm Trost sucht, bitteschön. Falls da ein Bündnis entstehen sollte, um die Maßnahmen zu durchkreuzen, die wir bald werden treffen müssen, dann könnte ich auch Leukon nicht mehr schützen, doch das will ich nicht hoffen. Öfter muß ich, halb zornig, halb betroffen, an Medeas Frage denken, die sie stellte, als sie mich verließ, nach unserem langen Gespräch. Sie fragte: Wovor lauft ihr alle eigentlich davon.
6
Er hat mir meine Güter genommen.
Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen,
mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität,
mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen
von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen
ist. Aber warum tut das jemand, das versteh ich nicht ...
Ingeborg Bachmann, ›Franza-Fragment‹
Glauke
Es ist alles meine
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