Medea. Stimmen
Schuld. Ich habe gewußt, daß die Strafe kommen muß, ach, ich bin geübt im Bestraftwerden, die Strafe tobt in mir, lange ehe ich ihr Gesicht kenne, nun kenne ich es und werfe mich vor dem Altar des Helios zu Boden und zerreiße meine Kleider und zerkratze mein Gesicht und flehe ihn an, er möge diese Strafe von meiner Stadt nehmen und sie nur auf mich legen, auf mich, die Schuldige.
Die Pest. Ach, es ist das Übermaß. Kann es eine Schuld geben, die als Strafe die Pest nach sich zieht, ich könnte Turon fragen, der mir nicht mehr von der Seite weicht, Akamas hat ihn mir als Beschützer beigegeben, er ist so alt wie ich, ein bleicher, unglaublich dünner junger Mann mit hohlen Wangen und langen knochigen Fingern und einem klebrigen Blick, ich muß ihm dankbar sein, wie er sich um mich kümmert, der König mache sich Sorgen um mich, hat er mir sagen lassen, Regierungsgeschäfte hindern ihn, persönlich zu mir zu kommen, das ist selbstverständlich, auch wenn er käme, könnte ich ihm nicht sagen, daß es mir vor den feuchten knochigen Händen des Turon graust, die er mir gerne auf den Oberarm legt oder auf die Schulter, oder sogar auf die Stirn, um mich zu beruhigen, so sagt er, und daß der Geruch nach fauligem Schweiß, der aus seinen Achselhöhlen strömt, mich ekelt, kein anderer Mensch, den ich kenne, riecht so, im Gegenteil, es gibt Menschen, deren Geruch man nicht genug einsaugen kann, aber daran will ich nicht schon wieder denken, nicht schon wieder an die Frau, die mir auch die Handauf die Stirn gelegt hat, nein, ich soll sie vergessen, ich muß sie vergessen, die mir das anempfehlen, haben alle recht, besonders Kreon, der Vater hat recht, ich muß den Namen dieser Frau aus meiner Erinnerung tilgen, ich muß mir diese ganze Person aus dem Kopf schlagen, sie mir aus dem Herzen reißen, ich muß mich fragen lassen oder mich selbst fragen, wie es mir passieren konnte, daß ich ihr mein Herz öffnete, ihr, die uns immer fremd bleiben wird, Turon hat wohl recht, sie Verräterin zu nennen, sie der schwarzen Magie zu bezichtigen, aber was Turon sagt, ist mir eigentlich gleichgültig, es geht mir nicht so nahe, wie mir die Verzweiflung des Vaters nahegegangen ist, denn der maßlose Zorn, den er gegen mich gerichtet hat, kann ja nur aus Verzweiflung gekommen sein, nicht wahr, niemand hat ihn je so zornig gesehen, ich kann mich nicht erinnern, daß er mich je vorher berührt hätte, er hat es vermieden, mich zu berühren, das habe ich immer verstanden. Welcher Mann, und sei es der Vater, berührt gerne die blasse unreine Haut, das dünne schlaffe Haar oder die linkischen Glieder eines Mädchens, und sei es die Tochter, nicht wahr, es ist ja meine früheste Gewißheit, daß ich häßlich bin; mochte mich die Frau, deren Namen ich nicht mehr aussprechen will, auslachen soviel sie wollte, mochte sie mir Tricks beibringen, wie ich mich halten, wie ich laufen, womit ich mein Haar waschen und wie ich es tragen sollte, darauf fiel ich natürlich herein, und fast hätte ich ihr geglaubt, fast hätte ich mich wie irgendein anderes Mädchen gefühlt; das ist meine Schwäche, denen zu glauben, die mir schmeicheln, obwohl es nicht eigentlich Schmeichelei war, es war etwas anderes, es war raffinierter, es ging tiefer, es rührte an den geheimstenPunkt in meinem Inneren, an den tiefsten Schmerz, den ich bis dahin nur vor der Gottheit ausbreiten konnte und von jetzt an wieder nur vor der Gottheit werde ausbreiten können, für immer und ewig, welch ein Urteil, ich darf es nicht denken, es macht mich krank, das hat sie mich gelehrt, daß es mich krank macht, wenn ich in mir wieder und wieder die Bilder aufrufe, die mich als Unglücksmenschen zeigen, als Unglückswurm, warum nur, hat sie gesagt und gelacht, auf die Weise, die nur sie an sich hat und die, da hat Turon ganz recht, ziemlich dreist ist, so kann sie in ihren wilden Bergen lachen, sagt er, bitteschön, aber wieso sollen wir uns dieses anmaßende Lachen gefallen lassen – warum, sagte sie, willst du dein ganzes Leben unter diesen schwarzen Tüchern ersticken, sie zog mir die schwarzen Kleider aus, die ich trug, solange ich denken kann, sie brachte Arinna mit, die Tochter von Lyssa, die hatte Webstücke bei sich, wie nur die Frauen aus Kolchis sie herstellen, Farben, die mir die Augen weiteten, sie hielten mir die Stoffe an, sie führten mich vor einen Spiegel, aber das ist nichts für mich, sagte ich, sie lachten bloß, ein bestimmtes leuchtendes Blau sollte es sein, das
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