Medicus 01 - Der Medicus
möglichst schnell hinter sich zu bringen. Er berührte vorsichtig Nathanaels Stirn, schaute ihm in die Augen und roch an seinem Atem. »Es wird vorübergehen«, orakelte er.
»Was ist es?« fragte Bukerei, aber Ferraton antwortete nicht. Rob spürte instinktiv, dass der Doktor es nicht wusste. »Es ist die Halsbräune«, erklärte Ferraton endlich und zeigte auf weiße Eiterpünktchen im hochroten Rachen seines Patienten. »Eine eiternde Entzündung vorübergehender Art. Nicht mehr.« Er schnürte seine Aderpresse um Nathanaels Arm, stach geschickt mit einer Lanzette hinein und ließ ihn gründlich zur Ader. »Und wenn es nicht besser wird?« fragte Bukerei. Der Medicus runzelte die Stirn. Er würde dieses Armeleutehaus nicht wieder betreten. »Ich werde ihn am besten noch einmal zur Ader lassen, um ganz sicher zu gehen«, entschloss er sich und nahm sich den anderen Arm vor. Er ließ ein Fläschchen flüssiges Kalomel, gemischt mit verkohltem Schilfrohr, zurück und berechnete Bukerei den Besuch, die Aderlässe und die Medizin einzeln.
»Menschenmordender Blutsauger! Schlächter, Gentlemanschwanz«, murmelte Bukerei, der ihm nachstarrte. Der Zunftmeister versprach Rob, eine Frau zu schicken, die seinen Vater pflegen würde.
Der totenblasse, ausgeblutete Nathanael bewegte sich nicht. Ein paarmal verwechselte er den Jungen mit Agnes und versuchte, seine Hand zu ergreifen. Aber Rob erinnerte sich daran, wie sich sein Vater während der Krankheit seiner Mutter verhalten hatte, und zog ihm die Hand weg.
Später schämte er sich und kehrte ans Bett seines Vaters zurück. Er ergriff Nathanaels schwielige Hand, sah die hornigen, abgebrochenen Nägel, den eingefressenen Schmutz und die steifen, schwarzen Haare. Es war genauso wie beim ersten Mal. Er nahm ein Schwinden wahr gleich der Flamme einer Kerze, die herabgebrannt ist und flackert. Irgendwie wußte er, daß sein Vater im Sterben lag und daß der Tod sehr bald eintreten würde. Stummes Entsetzen erfaßte ihn genau wie damals, als seine Ma gestorben war.
Auf der anderen Seite des Bettes standen seine Brüder und die Schwester. Er war jung, aber sehr intelligent, und sofort übertönte eine praktische Überlegung seinen Schmerz und seine schreckliche Angst. Er schüttelte den Arm seines Vaters. »Was soll jetzt aus uns werden?« fragte er laut, doch niemand antwortete.
Die Aufteilung
Weil diesmal ein Zunftmitglied gestorben war und nicht nur eine Familienangehörige, zahlte die Zimmermannszunft fünfzig Psalmodien. Zwei Tage nach dem Begräbnis zog Della Hargreaves nach Ramsey, um bei ihrem Bruder zu wohnen. Richard Bukerei nahm Rob zu einem Gespräch beiseite.
»Wenn keine Verwandten da sind, müssen die Kinder und der Besitz aufgeteilt werden«, erklärte der Zunftmeister energisch. »Die Zunft wird für alles sorgen.«
Am Abend versuchte Rob, dies seinen Brüdern und seiner Schwester zu erklären. Nur Samuel durchschaute, wovon er sprach.
»Dann werden wir also getrennt?«
»Ja.«
»Jeder von uns wird bei einer anderen Familie leben?«
»Ja.«
In dieser Nacht kroch eines seiner Geschwister zu ihm ins Bett. Er hatte Willum oder Anne Mary erwartet, aber es war Samuel, der die Arme um ihn schlang und sich an ihn klammerte, als hätte er Angst zu fallen. »Ich will, dass sie wiederkommen, Rob.«
»Ich auch.« Er streichelte die knochige Schulter, die er oft verprügelt hatte. Eine Zeitlang weinten sie gemeinsam.
»Werden wir uns also nie mehr sehen?«
Ihm wurde kalt. »Ach Samuel, sei doch nicht so dumm! Wir werden bestimmt beide in der Gegend wohnen und uns immer wieder sehen. Wir bleiben ewig Brüder.«
Das tröstete Samuel, und er schlief ein wenig, aber vor Morgengrauen nässte er das Bett, als wäre er jünger als Jonathan. Am Morgen schämte er sich und konnte Rob nicht in die Augen schauen. Seine Angst war nicht unbegründet, denn er war der erste, der fortging. Die meisten Mitglieder der Zehnschaft ihres Vaters waren noch arbeitslos. Von den neun Zimmerleuten war nur ein Mann imstande und auch bereit, ein Kind in seine Familie aufzunehmen. Mit Samuel übersiedelten Nathanaels Hämmer und Sägen zu Turner Hörne, einem Zimmermannsmeister, der nur sechs Häuser weiter wohnte.
Zwei Tage später kam ein Priester namens Ranald Lovell in Begleitung von Pater Kempton, der die Messen für Ma und Pa gelesen hatte. Vater Lovell sagte, dass er nach Nordengland versetzt worden sei und ein Kind zu sich nehmen wolle. Er musterte alle und fand an William
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