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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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einlassen.
    Er sehnte sich nach zu Hause und nach Liebe, doch diese Sehnsucht legte sich und störte ihn bald nicht weiter. Wegen seiner Jugend und seiner Taubheit fand er keine Freunde, was sich freilich in guten Noten auswirkte, da er die meiste Zeit studierte. Seine Lieblingsfächer waren Astronomie und Physiologie, obwohl letztere ihn enttäuschte, da der Unterricht fast nur in der Aufzählung von Körperteilen bestand. An die Beschreibung der Körperfunktionen wagte sich Mr. Rowell, der Lehrer, nur einmal bei einer Vorlesung über die Verdauung und die Bedeutung der Regelmäßigkeit. Aber im Physiologiehörsaal war ein zusammengedrahtetes Skelett an einer Schraube in seiner Schädeldecke aufgehängt, und Shaman brachte Stunden alleine mit ihm zu und prägte sich den Namen, die Form und die Funktion jedes alten, ausgebleichten Knochens ein.
    Galesburg war eine hübsche Stadt. Die Straßen säumten Ulmen, Ahorn- und Walnussbäume, die die ersten Siedler gepflanzt hatten. Die Bewohner waren auf drei Dinge besonders stolz: In ihrer Stadt hatte Harvey Henry May einen selbstschärfenden Stahlpflug erfunden; ein Galesburger namens Olmsted Ferris hatte gutes Popcorn entwickelt, das er sogar in England vor Queen Victoria aufplatzen lassen durfte, und Senator Douglas sowie sein Gegner Lincoln debattierten am 7. Oktober 1858 im College.
    Shaman ging an diesem Abend in die Aula, um die Debatte zu verfolgen, doch die Halle war bereits so voll, dass nur noch Plätze frei waren, von denen aus er die Lippen der Kandidaten nicht hätte sehen können. So verließ er die Aula und stieg zum Dachboden hoch, wo sein Astronomielehrer, Professor Gardner, ein kleines Observatorium unterhielt. Hier sollte jeder Student einige Stunden pro Monat den Himmel beobachten, und an diesem Abend hatte Shaman den ganzen Stolz des Professors, ein Alvan-Clark-fünf-Zoll-Fernrohr, für sich alleine. Er stellte das Teleskop ein, und die Sterne sprangen ihn förmlich an, zweihundertmal größer als noch einen Augenblick zuvor. Es war eine kalte Nacht und der Himmel so klar, dass man die Ringe des Saturn erkennen konnte. Shaman betrachtete den Orion- und den Andromeda-Nebel und begann dann, das Fernrohr auf seinem Stativ zu bewegen und den Himmel abzusuchen. »Den Himmel fegen«, pflegte Professor Gardner das zu nennen und zu erzählen, eine Frau namens Maria Mitchell habe beim Himmelfegen einen Kometen entdeckt und sich damit unsterblichen Ruhm erworben. Shaman entdeckte keinen Kometen. Er beobachtete die Sterne, bis sie in ihrer funkelnden Größe vor seinen Augen zu tanzen begannen. Was hatte sie wohl geformt da oben, da draußen? Und die Sterne dahinter? Und dahinter?
    Er spürte, dass jeder Stern und jeder Planet der Teil eines komplizierten Systems ist wie ein Knochen in einem Skelett oder ein Tropfen Blut in einem Körper. Die ganze Natur schien so organisiert zu sein, so durchdacht: geordnet und doch höchst kompliziert. Was hatte sie so werden lassen? Mr. Gardner hatte Shaman gesagt, um Astronom zu werden, brauche er nur gute Augen und mathematisches Talent. Ein paar Tage lang war er versucht gewesen, die Astronomie zu seiner Lebensaufgabe zu machen, dann aber hatte er sich anders entschieden. Der Anblick der Sterne war faszinierend, doch man konnte nichts anderes tun als sie beobachten. Wenn so ein Himmelskörper aus der Bahn geriet, gab es keine Hoffnung, das zu korrigieren.
    Als Shaman an Weihnachten heimfuhr, kam ihm Holden’s Crossing irgendwie anders vor als früher, einsamer als sein Zimmer im Haus des Dekans, und am Ende der Ferien kehrte er gerne wieder ins College zurück. Er freute sich sehr über das Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, und kaufte sich einen kleinen Schleifstein und ein Fläschchen Öl, um die Klingen zu schärfen, bis sie mühelos ein Haar durchtrennten. Im zweiten Semester belegte er Chemie statt Astronomie. Der englische Aufsatz machte ihm Schwierigkeiten. Sie haben bereits mehr als einmal geschrieben, kritzelte sein Englischlehrer schlecht gelaunt in Shamans Heft, dass Beethoven viele seiner Werke als Tauber komponiert hat. Professor Gardner lud ihn ein, das Fernrohr zu benutzen, so oft er wolle, doch eines Abends vor einer Chemieprüfung suchte er den Himmel ab, anstatt Berzelius’ Atomgewichtetabelle auswendig zu lernen, und bekam eine schlechte Note. Daraufhin vernachlässigte er die Himmelsbeobachtung, wurde dafür aber sehr gut in Chemie. In den Osterferien, die er wieder in Holden’s Crossing

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