Medicus 02 - Der Schamane
verbrachte, luden die Geigers die Coles zum Essen ein, und Jasons Interesse an Chemie machte für Shaman diese unangenehme Begegnung etwas erträglicher, denn Jay erkundigte sich eingehend nach diesem Fach. »Was willst du denn eigentlich mal werden, Shaman?« fragte Jay.
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe mir gedacht... vielleicht irgend etwas Naturwissenschaftliches.« »Wenn du dich für Pharmazie interessierst, würde ich dich sehr gerne als Lehrling nehmen.« Shaman sah an der Miene seiner Eltern, dass sie das Angebot freute, er dankte Jay deshalb unbeholfen und sagte, er werde es sich überlegen. Aber er wusste bereits, dass er kein Apotheker werden wollte. Danach sah er eine Zeitlang nur auf seinen Teller und verpasste dadurch einen Teil der Unterhaltung, doch als er aufblickte, bemerkte er, dass Lillians Gesicht von Kummer überschattet war. Sie erzählte seiner Mutter, dass Rachels Kind in fünf Monaten hätte zur Welt kommen sollen, und danach unterhielten sie sich eine Weile über das Leid der Frauen, die ein Kind verlieren.
In den Sommerferien arbeitete er auf der Farm und las Philosophiebücher, die er sich von George Cliburn auslieh. Im neuen Schuljahr erlaubte der Dekan ihm, Hebräisch abzulegen, und er belegte Kurse über Shakespeares Dramen, fortgeschrittene Mathematik, Botanik und Zoologie. Nur einer der beiden Theologiestudenten war ans College zurückgekehrt, doch Brooke ebenfalls, mit dem er sich weiterhin nach Römerart unterhielt, um im Lateinischen in Übung zu bleiben. Professor Gardner, sein Lieblingslehrer, unterrichtete auch Zoologie, doch war er ein besserer Astronom als Biologe. Sie sezierten nur Frösche, Mäuse und kleine Fische und zeichneten eine Unmenge schematischer Darstellungen. Shaman besaß nicht das künstlerische Talent seines Vaters, aber dank seiner in Makwas Nähe verbrachten Kindheit hatte er einen Vorsprung in Botanik, und er schrieb seine erste Arbeit über die Anatomie der Blumen.
In diesem Jahr schlug die Auseinandersetzung über die Sklaverei im College hohe Wellen. Zusammen mit anderen Studenten und Fakultätsangehörigen trat Shaman in die Society for the Abolition of Slavery ein, die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei. Aber es gab auch viele am College und in der Stadt, die mit den Südstaaten sympathisierten, und manchmal entwickelte sich die Diskussion zu einem hässlichen Streit. Meistens ließ man Shaman in Ruhe. Die Studenten und die Leute aus der Stadt hatten sich an ihn gewöhnt, doch für die Unwissenden und die Abergläubischen war er zu einem Geheimnis, ja zu einer Legende geworden. Sie wussten nichts über Taubheit und verstanden nicht, dass Taube ihre Behinderung mit anderen Sinnen kompensieren können. Dass er stocktaub war, hatten sie sehr schnell herausgefunden, aber einige glaubten, dass er geheime Kräfte besitze, da er, wenn er alleine studierte und jemand leise hinter ihm ins Zimmer trat, immer dessen Anwesenheit spürte. Sie sagten, er habe »Augen am Hinterkopf«, denn sie begriffen nicht, dass er die Schwingungen der Schritte und den Luftzug einer geöffneten Tür spüren und das Erzittern der Blätter in seiner Hand sehen konnte. Er war froh, dass sie nichts von seiner Fähigkeit wussten, die Töne eines Klaviers zu unterscheiden. Er wusste, dass sie ihn manchmal »den eigenartigen tauben Jungen« nannten. An einem warmen Montagnachmittag Anfang Mai spazierte er durch die Stadt und besah sich die Blumen, die in den Vorgärten sprossen, als an der Kreuzung South Street und Cedar Street ein vierspänniges Lastfuhrwerk zu schnell um die Kurve bog. Das Donnern der Hufe und das klägliche Jaulen blieben ihm zwar erspart, doch er sah, wie ein kleines pelziges Ding gerade noch den Vorderrädern ausweichen konnte, dann aber vom rechten Hinterrad erfasst wurde. Der Hund wurde beinahe eine ganze Umdrehung mitgeschleift, bevor er wieder freikam. Das Lastfuhrwerk ratterte davon, der Hund jedoch blieb zappelnd im Straßenstaub hegen. Shaman lief zu dem Tier.
Es war eine unscheinbare gelbliche Hündin mit Stummelbeinen und einem Schwanz mit einer weißen Spitze. Shaman meinte, Spuren eines Terriers in ihr zu erkennen. Sie lag zuckend auf dem Rücken, ein dünnes rotes Rinnsal lief ihr aus dem Maul.
Ein Paar kam dazu und betrachtete sich das Tier. »Abscheulich«, sagte der Mann. »Diese verrückten Kutscher! Es hätte leicht auch einen von uns treffen können.« Er streckte warnend die Hand aus, als Shaman sich zu dem Hund hinunter bückte.
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