Medicus 02 - Der Schamane
Klopfen. Lucille war voll überschwenglichen Lobs, wie hübsch die Butter in Tücher eingewickelt sei, die sie zusammenfaltete und mit dem Teller auf den Tisch legte, bevor sie die Butter in den kalten Keller brachte. Danach nahm sie Shaman bei der Hand und führte ihn in ein Zimmer neben der Küche, das offensichtlich Roberta Williams’ Anprobierzimmer war. In einer Ecke lehnte ein halber Ballen Schürzenstoff, auf einem langen Regal lagerten ordentlich aufgerollt Seide, Satin, Drillich und Baumwollgewebe. Neben einem großen Rosshaarsofa stand eine Schneiderpuppe aus Draht und Stoff, die, wie Shaman überrascht und fasziniert feststellte, Hinterbacken aus Elfenbein besaß.
Sie bot ihm ihren Mund für einen einzigen, langen Kuss dar, und dann zogen sich beide rasch aus, wobei sie ihre Kleider in zwei beinahe pedantisch ordentliche Stapel nebeneinander legten, die Strümpfe brav in den Schuhen. Mit dem Blick des Anatomen bemerkte er, dass ihr Körper nicht gut proportioniert war: Die Schultern waren schmal und hängend, die Brüste nicht mehr als zwei kaum aufgegangene Eierkuchen mit je einem kleinen Sirupklecks und einer bräunlichen Beere in der Mitte, die untere Körperhälfte dagegen war mit ihren breiten Hüften und dicken Schenkeln viel schwerer. Als sie sich umdrehte, um ein grauweißes Laken über das Sofa zu werfen (»Das Rosshaar kratzt so!«), sah er, dass die Kleiderpuppe nicht für Lucilles Röcke gedacht sein konnte, denn dazu hätte sie ausladender geformt sein müssen. Als er dann soweit war, gab es kein Problem. Sie machte es ihm leicht, und er hatte von Alex und anderen schon so viele Geschichten gehört, dass er, auch wenn er das Gelände selbst nicht kannte, eine gute Vorstellung von den Orientierungspunkten hatte. Noch am Tag davor hätte er sich nicht vorzustellen gewagt, dass er auch nur den Elfenbeinhintern der Schneiderpuppe berührte, doch jetzt hielt er warmes, lebendiges Fleisch in den Händen, leckte den Sirup und kostete die Beeren. Sehr schnell und zu seiner großen Erleichterung warf er die Bürde der Keuschheit in einem enormen Erguss ab. Da er nicht hören konnte, was sie ihm ins Ohr keuchte, schärfte er all seine anderen Sinne bis zum äußersten, und sie tat ihm den Gefallen, alle möglichen Stellungen einzunehmen, damit er sie eingehend erkunden konnte, bis er wieder in der Lage war, die soeben gemachte Erfahrung, nun allerdings mit etwas größerer Ausdauer, zu wiederholen. Er hätte gern noch weitergemacht, doch schon bald darauf sah sie auf die Uhr und sprang vom Sofa, da sie, wie sie sagte, das Essen auf dem Tisch haben müsse, wenn ihre Mutter und ihr Vater heimkämen. Während des Anziehens machten sie Pläne für die Zukunft. Sie (und dieses leere Haus) standen tagsüber immer zur Verfügung. Doch leider war das die Zeit, in der Shaman arbeiten musste. Sie einigten sich schließlich darauf, dass Lucille versuchen werde, jeden Dienstag und Donnerstag um zwei Uhr zu Hause zu sein, für den Fall, dass er es schaffte, in die Stadt zu kommen. An diesen Tagen, erklärte er ihr mit Sinn fürs Praktische, könne er gleich die Post mitnehmen. Sie war nicht weniger praktisch veranlagt und gestand ihm, dass sie Fondant liebe, aber den rosafarbenen und nicht den grünen, der nach Pfefferminz schmecke. Er versicherte ihr, dass er den Unterschied kenne. Auf der anderen Seite des Zauns angelangt, spazierte er mit neugewonnener Leichtigkeit an der langen Reihe der blütenschweren Fliederbüsche entlang und sog den schweren Duft ein, der für den Rest seines Lebens ein für ihn höchst erotisierender Geruch bleiben sollte.
Lucille mochte die Glätte seiner Hände, ohne zu wissen, dass sie nur deshalb so weich waren, weil sie die meiste Zeit mit dem lanolinreichen Fettschweiß der Schafwolle in Kontakt waren. Bis weit in den Mai hinein dauerte auf der Farm die Wollschur, wobei Shaman, Alex und Alden den größten Teil der Arbeit erledigten, weil Doug Penfield sich zwar lernwillig zeigte, aber die Schere sehr ungeschickt handhabte. Doug erhielt deshalb die Aufgabe, die Wolle zu zupfen und zu waschen. Wenn er auf die Farm kam, brachte er Nachrichten vom Weltgeschehen mit, darunter auch die, dass die Republikaner Abraham Lincoln als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatten. Und als die Wolle gerollt, verschnürt und zu Ballen gepackt war, wussten sie auch, dass die Demokraten in Baltimore zusammengekommen waren und nach hitziger Debatte Douglas zu ihrem Kandidaten ernannt hatten. Doch
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