Medicus 02 - Der Schamane
verdammte Stadt ab.« Es war ein verlockender Gedanke, mit Alex unbeschwert durch die Welt zu ziehen, und das Angebot war durchaus ernst gemeint. »Ich hab’ andre Pläne, Bigger. Und du darfst auch nicht weglaufen. Wer soll denn sonst die Schafsscheiße wegschaufeln?«
Alex versetzte ihm einen Schlag, der ihn zu Boden warf. Keuchend und grunzend gingen die beiden aufeinander los. Aldens Flasche stürzte um und leerte sich gurgelnd und von den Raufenden unbeachtet, während sie über den strohbestreuten Stallboden rollten. Alex war von der Arbeit gestählt, aber Shaman war größer und stärker, und bald hatte er seinen Bruder im Schwitzkasten. Nach einer Weile merkte er, dass Alex ihm etwas sagen wollte, und er drückte ihm deshalb, ohne die Umklammerung zu lockern, den Kopf nach hinten, damit er sein Gesicht sehen konnte.
»Gib auf, und ich lass dich los«, krächzte Alex, und Shaman ließ sich lachend ins Heu fallen. Alex kroch zu der umgestürzten Flasche und sah sie bedauernd an.
»Alden bekommt einen Anfall, wenn er das sieht.«
»Sag ihm, ich hab’ sie ausgetrunken.«
»Nö. Der glaubt das doch nie«, sagte Alex und setzte die Flasche an die Lippen, um die letzten Tropfen herauszusaugen.
In diesem Herbst regnete es sehr stark. Die Regengüsse überzogen das Land auch noch im Winter mit schweren, silbrigen Vorhängen, doch dazwischen gab es immer wieder schöne Tage, so dass die Flüsse zwar anschwollen und donnernd durch ihr Bett stürzten, aber nicht über die Ufer traten. Die zunächst aufgehäufte Erde über Vickys Grab setzte sich, bis die Stelle von der Umgebung nicht mehr zu unterscheiden war.
Rob J. kaufte für Sarah einen grobknochigen, grauen Wallach. Sie nannten ihn Boss, doch wenn Sarah im Sattel saß, war klar, wer der Boss war.
Rob J. sagte, er wolle die Augen offenhalten nach einem passenden Pferd für Alex. Alex war ihm ehrlich dankbar, denn mit seiner Sparsamkeit war es nicht weit her, und das wenige, das er beiseite legen konnte, war für ein Jagdgewehr reserviert.
»Es kommt mir so vor, als würde ich mich mein ganzes Leben lang nach irgendeinem Pferd umsehen«, sagte Rob J., erwähnte dabei aber nicht, dass er auch nach einem Pferd für Shaman Ausschau halten wollte. Jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag kam der Postsack aus Rock Island nach Holden’s Crossing. Kurz vor Weihnachten begann Shaman, gespannt auf jede Lieferung zu warten, doch erst in der dritten Februarwoche kamen die ersten Antworten. An diesem Dienstag erhielt er die ersten, fast unhöflich knappen Absagen, eine vom Medical College of Wisconsin, die andere von der medizinischen Fakultät der University of Louisiana. Am Donnerstag erhielt er einen dritten Brief, der ihn darüber aufklärte, dass sein Bildungsstand und seine allgemeinen Voraussetzungen zwar exzellent seien, dass aber das »Rush Medical College of Chicago keine Einrichtungen für Taube« habe.
Einrichtungen? Glaubten die vielleicht, man müsse ihn in einen Käfig sperren?
Sein Vater wusste, dass Post gekommen war, und an Shamans beherrschtem Verhalten merkte er, dass es Ablehnungen gewesen waren. Shaman wollte von seinem Vater nicht mitleidig mit Samthandschuhen angefasst werden, und der tat es auch nicht. Die Absagen schmerzten, doch in den folgenden sieben Wochen kamen keine weiteren Briefe, und das war Shaman vorerst nicht unrecht.
Rob J. hatte Shamans Aufzeichnungen über die Obduktion des Hundes gelesen und fand sie vielversprechend, wenn auch etwas naiv. Er bot Shaman seine eigenen ärztlichen Unterlagen zur Lektüre an, damit er das Abfassen anatomischer Beschreibungen besser lernte, und Shaman las, sooft er dazu Zeit fand, in den Papieren seines Vaters. Durch Zufall stieß er dabei auch auf den Autopsiebericht über Makwa-ikwa. Es war ein eigenartiges Gefühl, das zu lesen, denn er wusste, während die in dem Bericht aufgezählten Entsetzlichkeiten passierten, hatte er als kleiner Junge ganz in der Nähe des Tatorts geschlafen. »Sie wurde ja vergewaltigt! Ich wusste zwar, dass sie ermordet...«
»Vergewaltigt und anal missbraucht. Aber das erzählt man doch einem kleinen Jungen nicht!« sagte sein Vater. Das stimmte natürlich.
Wie gebannt las Shaman den Bericht mehrere Male. Elf Stichwunden, die in unregelmäßiger Linie vom jugulum am Sternum entlang bis zu einer Stelle etwa zwei Zentimeter unterhalb des Sternfortsatzes verliefen... Dreieckige Wunden, zwischen 0,947 und 0,952 Zentimeter breit. Drei davon im Herzen, 0,887 Zentimeter
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