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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Er riss seinen Blick von der Schneiderpuppe mit den Elfenbein-Hinterbacken los, fragte Roberta nach ihrer Tochter und erfuhr, dass Lucille drei Jahre zuvor einen Postangestellten geheiratet habe und in Davenport lebe. »Kriegt jedes Jahr ein Kind. Kommt nur zu mir, wenn sie Geld braucht. So eine ist das«, beschwerte sich die erboste Mutter. Im Augenblick tiefster Unzufriedenheit wurde er auf der Hauptstraße von Tobias Barr angehalten, der mit zwei Damen in seinem Wagen saß. Die eine war seine zierliche, blonde Frau Frances und die andere deren Nichte, die aus St. Louis zu Besuch gekommen war. Evelyn Flagg war achtzehn Jahre alt, größer als Frances, aber ebenso blond, und hatte das schönste weibliche Profil, das Shaman je gesehen hatte. »Wir zeigen Evie ein bisschen die Gegend«, erklärte Dr. Barr. »Ich dachte, sie würde sich vielleicht für Holden’s Crossing interessieren. Haben Sie >Romeo und Julia< gelesen, Shaman?«
    »Ja, das habe ich. Warum?«
    »Sie sagten doch mal, wenn Sie ein Stück kennen, sehen Sie es sich auch gerne auf der Bühne an. In Rock Island gastiert diese Woche ein Tourneetheater, und wir wollen die Vorstellung besuchen. Kommen Sie mit?« »Das tue ich sehr gerne«, antwortete Shaman und lächelte Evelyn zu, die ihn bezaubernd anstrahlte. »Kommen Sie um fünf zu uns«, sagte Frances Barr, »zu einem leichten Abendessen vor der Aufführung.« Er kaufte sich ein weißes Hemd und eine schwarze, schmale Krawatte und las das Stück noch einmal. Die Barrs hatten auch Julius Barton und seine Frau eingeladen. Evelyn trug ein blaues Kleid, das gut zu ihrem blonden Haar passte. Es dauerte einen Moment, bis Shaman sich daran erinnerte, wo er dieses Blau kürzlich gesehen hatte: bei Rachels Hauskleid.
    Frances’ leichtes Abendessen bestand aus sechs Gängen. Shaman fand es schwierig, eine Unterhaltung mit Evelyn zu führen. Wenn er ihr eine Frage stellte, antwortete sie mit einem flüchtigen, nervösen Lächeln, das jeweils von einem Nicken oder Kopfschütteln begleitet wurde. Sie sprach nur zweimal aus eigenem Antrieb: einmal, um ihrer Tante zu versichern, dass der Braten ausgezeichnet schmecke, und das zweitemal beim Dessert, um Shaman anzuvertrauen, sie esse Birnen und Pfirsiche gleich gern und sei froh, dass sie zu verschiedenen Zeiten reiften, weil sie sich so nie zwischen ihnen entscheiden müsse. Das Theater war bis auf den letzten Platz besetzt und der Abend so heiß, wie ein Abend gegen Ende des Sommers nur sein konnte. Sie betraten den Saal, kurz bevor der Vorhang aufging, denn die sechs Gänge hatten einige Zeit beansprucht. Tobias Barr hatte beim Kartenkauf an Shaman gedacht: Sie saßen in der Mitte der dritten Reihe. Kaum hatten sie Platz genommen, als die Vorstellung auch schon begann. Shaman verfolgte die Vorgänge auf der Bühne durch sein Theaterglas, das ihm half, von den Lippen der Schauspieler abzulesen, und die Darbietung gefiel ihm sehr gut. Während der ersten Pause begleitete er Dr. Barr und Dr. Barton nach draußen, und während sie vor der Toilette hinter dem Theater in der Schlange standen, sprachen sie über die Aufführung. Sie fanden sie alle drei interessant. Dr. Barton meinte, die Darstellerin der Julia sei möglicherweise schwanger, und Dr. Barr sagte, der Romeo trage ein Bruchband unter seiner Strumpfhose.
    Shaman hatte sich auf die Lippen der Schauspieler konzentriert, doch während des zweiten Akts musterte er Julia kritisch, fand aber keinerlei Bestätigung für Dr. Bartons Vermutung. Zweifellos jedoch trug Romeo ein Bruchband.
    Am Ende des zweiten Akts wurden die Türen geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und die Lampen wurden angezündet. Shaman und Evelyn blieben auf ihren Plätzen sitzen und versuchten, sich zu unterhalten. Sie erzählte, sie gehe in St. Louis häufig ins Theater. »Ich finde es anregend, Schauspiele zu besuchen, Sie nicht?« »Doch. Aber ich tue es nur selten«, erwiderte Shaman geistesabwesend. Er hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, und musterte mit Hilfe seines Opernglases die Zuschauer auf den Balkonen, zuerst auf der linken Seite und dann auf der rechten. Auf dem zweiten Rang rechts entdeckte er Lillian und Rachel. Lillian trug ein braunes Leinenkleid mit großen, glockenförmigen Ärmeln aus Spitze, Rachel saß direkt unter einer Lampe, weshalb sie immer wieder Insekten verscheuchen musste, die das Licht anzog. Doch das erlaubte ihm, sie genauer anzusehen. Ihr Haar war sorgfältig zu einem schimmernden

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