Medicus 02 - Der Schamane
sich.
Die ersten Septembertage waren warm, aber die Luft war klar und frisch. Er ritt, sooft er konnte, auf dem Weg zu seinen Hausbesuchen am Fluss entlang und erfreute sich an dem in der Sonne glitzernden, träge dahinziehenden Wasser und der stelzbeinigen Grazie der Watvögel, die jedoch nicht mehr sehr zahlreich waren, da viele schon den Weg in den Süden angetreten hatten.
Eines Abends sah er auf dem Heimweg am Flussufer unter einem Baum drei bekannte Gestalten sitzen. Rachel entfernte gerade den Haken aus dem Maul eines Fisches, während ihr Sohn die Angelrute hielt, und als sie das zappelnde Tier wieder ins Wasser warf, erkannte Shaman an Hatties Miene, dass die Kleine sich ärgerte. Er lenkte Boss in ihre Richtung. »Hallo!«
»Hallo!« sagte Hattie.
»Sie lässt uns keinen einzigen Fisch behalten«, beschwerte sich Joshua. »Ich wette, es waren alles Welse«, erwiderte Shaman. Rachel hatte nie Welse mit nach Hause bringen dürfen, weil sie schuppenlos und daher nicht koscher waren. Er wusste, dass aber für ein Kind das schönste am Angeln ist, die Familie dabei zu beobachten, wie sie den Fang verspeist. »Ich muss zur Zeit täglich zu Jack Dämon reiten, weil es ihm sehr schlecht geht. Kennst du die Stelle, wo der Fluss bei seinem Haus eine scharfe Biegung macht?« fragte er Rachel. Sie lächelte ihn an.
»Die, wo die vielen Felsbrocken liegen?«
»Ja. Ich habe neulich gesehen, wie ein paar Jungen prächtige kleine Barsche dort rausgeholt haben.« »Danke für den Hinweis! Ich werde morgen mit den Kindern dorthin gehen.«
Er betrachtete Hatties Gesicht: Ihr Lächeln ähnelte auffällig dem ihrer Mutter. »Es war schön, euch zu sehen.« »Es war schön, Sie zu sehen«, antwortete Hattie. Er tippte grüßend an seinen Hut und wendete Boss. »Shaman!« Rachel machte einen Schritt auf das Pferd zu und schaute zu ihm auf. »Wenn du morgen gegen Mittag zu Jack Dämon reiten würdest, könntest du danach mit uns Picknick machen.«
»Gerne, wenn ich es schaffe.«
Am nächsten Tag beeilte er sich mit der Behandlung von Jack Dämons Atembeschwerden, und als er zu der Flussbiegung kam, entdeckte er den braunen Buckboard der Geigers sofort. Die graue Stute war im Schatten angebunden und graste.
Rachel und die Kinder hatten von den Felsen aus geangelt, und Joshua nahm Shamans Hand und führte ihn zu einem kleinen Tümpel, in dem sechs Schwarzbarsche nebeneinander schwammen. Sie waren mit einer durch die Kiemen gezogenen Angelschnur zusammengebunden, die an einem tiefhängenden Ast befestigt war. Rachel hatte, sobald sie seiner ansichtig wurde, ein Stück Seife genommen und schrubbte sich die Hände. »Das Essen wird nach Fisch schmecken«, sagte sie fröhlich.
»Das stört mich nicht im geringsten«, antwortete er, und das entsprach der Wahrheit. Es gab gefüllte Eier und eingelegte Gurken dazu und hinterher Limonade und Melassegebäck. Nach dem Essen verkündete Hattie mit ernster Miene, es sei Schlafenszeit, und legte sich mit ihrem Bruder auf eine Decke, um ein Mittagsschläfchen zu machen. Rachel räumte zusammen und verstaute alles in einer großen Tasche. »Du kannst ja eine der Angelruten nehmen und ein bisschen fischen«, meinte sie.
»Nein.« Er wollte viel lieber ihre Lippen im Auge behalten als eine Angelschnur.
Sie nickte und schaute auf das Wasser hinaus. Flussabwärts wogte ein Schwärm Schwalben elegant auf und nieder. Sie kamen wahrscheinlich aus dem Norden und flogen so dicht beieinander, dass es aussah, als seien sie ein einziger großer Vogel, der im Flug kurz das Wasser berührte, bevor er davonschoss.
»Ist es nicht wunderschön hier, Shaman? Ist es nicht gut, wieder zu Hause zu sein?«
»Ja, das ist es, Rachel.«
Eine Weile unterhielten sie sich über das Leben in der Stadt. Er erzählte ihr von Cincinnati und beantwortete ihre Fragen über die Medical School und die Poliklinik.
»Und was ist mir dir - hat dir Chicago gefallen?«
»Es war schön, jederzeit ins Theater oder Konzert gehen zu können . Ich habe jeden Donnerstag in einem Quartett Violine gespielt. Joe war zwar nicht musikalisch, aber er wollte, dass ich spiele. Er war ein sehr lieber Mann«, sagte sie. »Er ging sehr behutsam mit mir um, als ich im ersten Jahr unserer Ehe ein Kind verlor.« Shaman nickte.
»Aber dann kam Hattie - und der Krieg. Der Krieg beanspruchte alle Zeit, die meine Familie nicht brauchte. Es gab fast tausend Juden in Chicago. Vierundachtzig junge Männer traten in eine jüdische Kompanie ein,
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