Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
schwierig. Das Gras mehrerer gemähter Wiesen verfaulte, weil es nicht trocknen konnte, und lockte Schwärme von Insekten an, die sich auf Shaman stürzten, wenn er zu seinen Hausbesuchen ritt. Dennoch fand er es wunderbar, der Arzt von Holden’s Crossing zu sein. Auch in der Poliklinik von Cincinnati hatte er gern gearbeitet. Wenn er dort Hilfe oder die Bestätigung einer Diagnose brauchte, stand der gesamte Stab zu seiner Verfügung. Hier aber war er völlig auf sich allein gestellt, und er wusste morgens nie, was im Laufe des Tages auf ihn zukommen würde. Das war medizinische Praxis in Reinkultur, und er fand großen Gefallen daran. Tobias Barr schrieb ihm, dass die Medical Society nicht mehr bestehe, weil die meisten Mitglieder im Krieg seien. Er schlug vor, dass Shaman, Julius Barton und er sich einmal im Monat zum Essen und Fachsimpeln treffen sollten, bis die Gesellschaft sich wieder etabliere. Die drei genossen den ersten gemeinsamen Abend sehr und sprachen vor allem über die Masern, die sich in Rock Island ausbreiteten, in Holden’s Crossing jedoch nicht.
    Sie waren einer Meinung, dass man den jugendlichen und erwachsenen Patienten einschärfen müsse, die Pusteln nicht aufzukratzen, wie schlimm der Juckreiz auch sein mochte, und dass die Krankheit mit lindernden Salben, fiebersenkenden Getränken und Seidlitz-Puder behandelt werden müsse. Interessiert lauschten die beiden anderen Männer, als Shaman ihnen berichtete, dass in der Poliklinik von Cincinnati auch das Gurgeln mit Alaun angeordnet werde, wenn die Atmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen sind. Beim Dessert kam das Gespräch auf die Politik. Dr. Barr, einer der vielen Republikaner, die das Gefühl hatten, Lincoln gehe zu sanft mit dem Süden um, begrüßte die Wade-Davis Reconstruction Bill, die schwere Strafmaßnahmen für den Süden forderte, sobald der Krieg zu Ende sei, und die das Repräsentantenhaus trotz Lincolns Protest ratifiziert hatte. Von Horace Greely ermutigt, hatten sich abtrünnige Republikaner in Cleveland versammelt und waren übereingekommen, ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren: General John Charles Fremont.
    »Halten Sie es für möglich, dass der General Lincoln aus dem Feld schlägt?« fragte Shaman. Dr. Barr schüttelte traurig den Kopf. »Nicht, wenn dann immer noch Krieg ist. Es gibt keine bessere Voraussetzung für eine Wiederwahl als den Krieg.«
    Im Juli hörten die Regenfälle endlich auf, doch die Sonne stand wie eine Kupferscheibe am Himmel, und die Prärie dampfte und wurde dürr und braun. Die Masernepidemie erreichte nun Holden’s Crossing, und Shaman wurde immer öfter nachts aus dem Bett zu einem Patienten geholt, obwohl die Krankheit weniger schlimm wütete als in Rock Island. Seine Mutter erzählte, dass die Masern im Vorjahr in Holden’s Crossing ein halbes Dutzend Todesopfer gefordert hätten, darunter mehrere Kinder. Shaman meinte, dass ein massives Auftreten der Erkrankung vielleicht in den folgenden Jahren eine partielle Immunität hervorrufe. Er trug sich mit dem Gedanken, an Harold Meigs, seinen ehemaligen Lehrer in Cincinnati zu schreiben, um ihn zu fragen, was er von dieser Theorie halte.
    An einem windstillen Abend, als die Schwüle sich in einem Gewitter entlud, spürte Shaman die Vibrationen der heftigen Donnerschläge und riss jedesmal im Bett die Augen auf, wenn die Blitze sein Zimmer taghell erleuchteten. Schließlich gewann seine Müdigkeit dennoch die Oberhand, und er schlief ein, und zwar so fest, dass seine Mutter ihn sekundenlang an der Schulter rütteln musste, bis er zu sich kam. Sarah hielt die Lampe vor ihr Gesicht, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Du musst aufstehen.«
    »Jemand mit Masern?« fragte er und fuhr in seine Kleider. »Nein. Lionel Geiger ist hier, um dich zu holen.« Inzwischen war er auch in seine Schuhe geschlüpft und ging hinaus. »Was ist los, Lionel?« »Der kleine Junge meiner Schwester. Er hat einen Erstickungsanfall. Versucht immer, Luft zu holen, und macht dabei ein unheimliches Geräusch wie eine Pumpe, die kein Wasser ansaugt.«
    Es wäre zu zeitraubend gewesen, über den Langen Weg durch den Wald zu gehen, und zu zeitraubend, ein Pferd vor den Wagen zu spannen oder zu satteln. »Ich nehme dein Pferd«, erklärte Shaman Lionel, und schon war er aufgesprungen und galoppierte, die Arzttasche fest an sich gepresst, den Weg hinunter. Nach einer halben Meile die Straße entlang bog er zu den Geigers ab. Lillian Geiger erwartete ihn an

Weitere Kostenlose Bücher