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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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abzulesen. Er beobachtete statt dessen Kletterndes Eichhörnchen. Er sah, dass die Frau den Blick auf die Schlange richtete und ihre Augen sich weiteten. Der Medizinmann ließ das Reben-Tier nun an ihrem Körper hinunterkriechen, bis der Kopf direkt über der Stelle war, unter der das Baby feststeckte. Shaman spürte ein Beben im Geburtskanal.
    Er sah, dass Rachel den Mund öffnete, um zu protestieren, doch er brachte sie mit einem Blick zum Verstummen.
    Die Fangzähne berührten den Bauch von Kletterndes Eichhörnchen. Plötzlich fühlte Shaman, wie alles sich weitete. Die Frau drückte heftig, und das Kind glitt weiter, so dass Shaman keine Mühe mehr hatte, es herauszuziehen. Lippen und Wangen des kleinen Jungen waren blau, doch sie röteten sich sofort. Mit zitterndem Finger wischte Shaman ihm den Schleim vom Mund. Das winzige Gesicht verzog sich entrüstet, und der Mund öffnete sich. Shaman spürte, dass der kleine Bauch eingezogen wurde, weil der Junge Luft holte, und er wusste, dass die anderen gleich darauf einen dünnen, hohen Schrei hörten.
    Mit dem Medizinmann ging Shaman noch einmal zum Bach, um sich zu waschen. Schlafwandler sah zufrieden aus. Shaman war sehr nachdenklich. Vor dem Verlassen der Hütte hatte er sich die Rebe genau angesehen, um nachzuprüfen, ob es sich wirklich nur um eine Rebe handelte.
    »Hat die Frau geglaubt, dass die Schlange ihr Baby verschlingt, und es deshalb geboren, um es zu retten?« »Mein Lied hat ihr gesagt, dass die Schlange ein böser Manitu ist. Ein guter Manitu hat ihr geholfen.« Shaman erkannte, dass die Wissenschaft in der Heilkunst nur bis zu einem gewissen Punkt von Nutzen ist. Danach wird sie unterstützt vom Glauben, von dem Vertrauen auf etwas anderes. Dies war ein Vorteil, den der Medizinmann gegenüber dem Arzt hatte, denn Schlafwandler war Priester und Arzt. »Bist du ein Schamane?« »Nein.« Schlafwandler sah ihn an. »Weißt du, was die Zelte der Weisheit sind?«
    »Makwa hat uns von den Sieben Zelten erzählt.«
    »Ja, sieben. Bei einigen Dingen bin ich im vierten Zelt, aber bei zu vielen bin ich noch im ersten.« »Wirst du irgendwann Schamane werden?«
    »Wer soll mich denn unterrichten? Weiße Wolke ist tot. Makwa-ikwa ist tot. Die Stämme sind zerstreut, die Mide’wiwin gibt es nicht mehr. Als ich mich in jungen Jahren dazu entschloss, ein Bewahrer der Geister zu werden, hörte ich von einem alten Sauk in Missouri, der fast ein Schamane war. Ich ging zu ihm und blieb zwei Jahre bei ihm. Aber dann ist er viel zu früh an den Pocken gestorben. Jetzt suche ich alte Leute, von denen ich etwas lernen könnte, aber es gibt nicht mehr viele, und die meisten wissen nichts. Unsere Kinder lernen Reservats-Englisch, und die Sieben Zelte der Weisheit sind verschwunden.« Shaman war plötzlich klar, was der Indianer meinte: Es gab für ihn keine Medical Schools mehr, denen er seine Bewerbungsschreiben schicken konnte. Die Sauks und die Mesquakies waren ein Überbleibsel, dem man die Religion, die Medizin und die Vergangenheit geraubt hatte.
    Er hatte kurz die Schreckensvision von einer grünhäutigen Horde, die über die weiße Rasse hinwegfegt und nur wenige verstörte Überlebende zurücklässt, Überlebende, die höchstens noch eine unbestimmte Ahnung haben von einer früheren Zivilisation, von Hippokrates, Galen und Avicenna, Jahwe, Apollo und Jesus. Offensichtlich hatte sich die Nachricht von der Geburt des Kindes in Windeseile im ganzen Dorf verbreitet. Wenn die Indianer auch keine Menschen waren, die ihre Gefühle offen zeigten, so spürte Shaman doch ihre Dankbarkeit, als er nun durch die Siedlung ging. Charles Keyser kam zu ihm und erzählte, dass die Geburt, bei der im Vorjahr seine Frau gestorben war, dem Fall dieses Mädchens sehr ähnlich gewesen sei. »Der Doktor ist nicht rechtzeitig gekommen. Die einzige andere Frau, die dabei war, war meine Mutter, und die wusste auch nicht mehr als ich.«
    »Sie dürfen sich deswegen keine Vorwürfe machen. Manchmal können wir eben ein Menschenleben nicht retten. Ist das Kind auch gestorben?«
    Keyser nickte.
    »Haben Sie noch andere Kinder?«
    »Zwei Mädchen und einen Jungen.« Shaman vermutete, dass Keyser unter anderem auch deshalb nach Tama gekommen war, weil er eine neue Frau suchte. Die Indianer schienen ihn zu kennen und zu mögen, einige begrüßten ihn sogar und nannten ihn Charlie Farmer.
    »Warum nennen sie Sie so? Die Leute hier sind doch auch Farmer.« Keyser lachte. »Nicht so wie ich. Mein

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