Medicus 02 - Der Schamane
dass er versuchen könnte, sie zu zeichnen, solange ihm ihre Gesichtszüge noch vertraut waren. Die Skizze ging ihm leicht von der Hand, nur bei der Nase hatte er Schwierigkeiten, und es dauerte eine Stunde vergeblichen Bemühens, bis er sie korrekt zu Papier gebracht hatte. Dann rollte er die Zeichnung zusammen, verschnürte sie und legte sie in den Beutel.
Ein Stück Kernseife kam ebenfalls hinein, als Symbol all dessen, was ihm Oliver Wendeil Holmes über Reinlichkeit und Chirurgie beigebracht hatte. Das brachte ihn auf einen neuen Gedanken, und er nahm den Tierschädel und die Zeichnung wieder heraus. Statt dessen legte er Stoffstreifen und Verbände hinein, die wichtigsten Medikamente und jene chirurgischen Instrumente, die er bei seinen Hausbesuchen brauchte. Am Ende war sein Beutel eine Arzttasche, die das Rüstzeug seines Berufes enthielt. Somit war es das Medizinbündel, das ihm seine Macht gab, und Rob war sehr glücklich über das Geschenk Steinhunds, das ihm der Schlag auf den Kopf eingebracht hatte.
Die Geißenjäger
Es war für Rob J. ein wichtiges Ereignis, als er seine Schafe kaufte, denn ihr Blöken war das letzte Detail, das ihm noch gefehlt hatte, um sich richtig zu Hause zu fühlen. Zuerst half er Alden bei der Arbeit mit den Merinos, doch schnell zeigte sich, dass der Knecht mit Schafen ebenso gut umgehen konnte wie mit allen Tieren, und bald konnte Alden ganz alleine Schwänze stutzen, männliche Lämmer kastrieren und die Tiere auf Räude absuchen, so als wäre er schon seit Jahren Schafhirte. Es war auch gut, dass Rob J. auf der Farm nicht gebraucht wurde, denn je weiter sich die Nachricht von der Anwesenheit eines guten Arztes verbreitete, desto größere Strecken musste er für seine Hausbesuche zurücklegen. Bald, das wusste er, würde er seinen Wirkungskreis einschränken müssen, denn Nick Holdens Traum wurde Wirklichkeit, und immer neue Familien trafen in Holden’s Crossing ein.
Nick kam eines Morgens, um sich die Herde, die er als »stinkend« abtat, anzusehen, dann nahm er Rob J. beiseite, um ihn »in etwas Vielversprechendes einzuweihen: eine Mühle«. Einer der Neuankömmlinge war ein Deutscher namens Pfersick, ein Müller aus New Jersey. Pfersick wusste, wo er das Gerät für seine Mühle kaufen konnte, aber er hatte kein Kapital. »Neunhundert Dollar sollten reichen. Ich gebe ihm sechshundert gegen eine fünfzig-prozentige Gewinnbeteiligung. Sie geben ihm dreihundert und erhalten fünfundzwanzig Prozent - ich leihe Ihnen, was Sie brauchen -, und fünfundzwanzig lassen wir Pfersick für die Betriebskosten.« Rob hatte erst knapp die Hälfte von Holdens Kredit zurückgezahlt, und er hasste Schulden. »Wenn Sie das ganze Geld aufbringen, warum nehmen Sie dann nicht gleich fünfundsiebzig Prozent?«
»Ich will Ihr Nest auspolstern, bis Sie nicht mehr auf den Gedanken kommen, davonzufliegen. Sie sind für den Ort so wichtig wie Wasser.« Rob J. wusste, dass das stimmte. Als er mit Alden nach Rock Island geritten war, um die Schafe zu kaufen, hatte er einen Flugzettel gesehen, den Nick verteilt hatte und auf dem er die vielen Vorzüge von Holden’s Crossing anpries. Die Anwesenheit des Dr. Cole war einer der wichtigsten gewesen. Er dachte über das Angebot nach, und da er nicht glaubte, dass ihn eine Beteiligung an der Mühle als Arzt kompromittieren werde, stimmte er schließlich zu. »Partner!« rief Nick.
Sie bekräftigten das Geschäft mit einem Handschlag. Die angebotene riesige Havanna lehnte Rob J. ab. Seit er Zigarren benutzt hatte, um Nikotin anal zu verabreichen, war sein Appetit auf Tabak sehr gesunken. Als Nick sich die seine anzündete, bemerkte Rob, er sehe aus wie der perfekte Bankier.
»Das kommt früher, als Sie denken, und Sie werden einer der ersten sein, die es erfahren.« Befriedigt blies Nick den Rauch in die Luft. »Ich gehe übers Wochenende nach Rock Island zum Geißenjagen. Wollen Sie nicht mitkommen?«
»Was? Jagen in Rock Island?«
»Aber doch keine Tiere! Weiber! Na, wie war’s, alter Bock?«
»Aus Bordellen mache ich mir nichts.«
»Ich rede von privaten Damen erster Güte.«
»Na gut. Ich komme mit.« Rob J. hatte versucht, das möglichst beiläufig zu sagen, doch etwas in seiner Stimme musste verraten haben, dass er diese Dinge nicht auf die leichte Schulter nahm, denn Nick Holden grinste. Das Stephenson Home spiegelte den Charakter einer Stadt am Mississippi, in deren Hafen jährlich fast zweitausend Dampfschiffe anlegten und an der
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