Medicus 02 - Der Schamane
ihren einzigen Ausweg sahen sie in der Rückkehr zu Keokuk. Am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich von den wenigen, die zu den Chippewas ziehen wollten, und machten sich auf den Weg nach Süden, in die alte Heimat. Das Dampfschiff Warrior blieb den Indianern auf den Fersen, indem es einfach den Scharen von Aaskrähen und Geiern Flussabwärts folgte. Denn inzwischen ließen die Sauks ihre Toten einfach liegen, wo sie gestorben waren. Einige waren alte Leute und Kinder, andere Verwundete aus den vorangegangenen Kämpfen. Wenn das Schiff anlegte, untersuchten die Männer die Leichen und schnitten ihnen die Skalps und Ohren ab. Es war gleichgültig, ob das Stück Kopfhaut mit dunklen Haaren von einem Kind oder das rote Ohr von einer Frau stammte: Die Trophäen wurden stolz in die vielen kleinen Städte zurückgetragen, als Beweis, dass ihre Besitzer tapfere Indianerkämpfer waren.
Die wenigen überlebenden Sauks verließen den Masesibowi und zogen landeinwärts, nur um dort auf die Winnebago-Söldner der Armee zu treffen. Hinter den Winnebagos pflanzten weiße Soldaten die Bajonette auf, die ihnen unter den Indianern den Namen Lange Messer eingebracht hatten. Als sie angriffen, stieg ein heiserer, tierischer Schrei aus ihren Kehlen auf, tiefer als das indianische Schlachtgeheul, aber nicht weniger wild. Es waren unzählige, und sie waren versessen aufs Töten, um etwas wiederzugewinnen, was sie verloren zu haben glaubten. Die Sauks hatten keine andere Wahl, als schießend zurückzuweichen. Am Ufer des Masesibowi angelangt, versuchten sie zu kämpfen, wurden aber sehr schnell in den Fluss getrieben. Zwei Himmel stand neben ihrer Mutter im knietiefen Wasser, als eine Bleikugel deren Unterkiefer zerfetzte. Die Frau fiel mit dem Gesicht nach unten ins Wasser. Zwei Himmel musste ihre Mutter auf den Rücken drehen und gleichzeitig den kleinen Bruder Der Land besitzt über Wasser halten. Es gelang ihr mit größter Anstrengung, doch dann musste sie feststellen, dass ihre Mutter tot war. Ihren Vater und ihre Schwester sah sie nirgends. Die Welt bestand nur aus Gewehrfeuer und Schreien, und als die Sauks durch das Wasser zu einer kleinen Weideninsel wateten, ging sie mit ihnen.
Sie versuchten, auf der Insel eine Verteidigungsstellung zu errichten, indem sie hinter Felsen und umgestürzten Bäumen in Deckung gingen. Doch dann tauchte wie ein gigantisches Gespenst das Dampfschiff aus dem Dunst auf und nahm sie vom Fluss aus unter Feuer. Ein paar Frauen rannten ins Wasser und versuchten, zum anderen Ufer zu schwimmen. Zwei Himmel wusste nicht, dass dort von der Armee angeheuerte Sioux warteten, um jeden zu töten, der den Weg durch die Fluten schaffte, und sie stieg schließlich auch ins Wasser, wobei sie das Baby mit den Zähnen am Genick packte, um die Hände zum Schwimmen frei zu haben. Sie biss in das weiche, faltige Fleisch des Kindes, spürte das Blut ihres Bruders auf der Zunge, und ihre Schulter- und Nackenmuskeln verkrampften sich vor Anspannung und begannen zu schmerzen. Sie wurde schnell müde und wusste, wenn sie noch länger so weitermachte, würden sie und der Kleine ertrinken. Die Strömung trieb sie Flussabwärts, weg von den Schüssen, und paddelnd wie ein Fuchs oder ein Eichhörnchen mit einem Jungen schwamm sie wieder auf das Ufer zu, von dem sie gekommen war. Dort lag sie dann neben dem schreienden Baby auf der Erde und versuchte, seinen zerbissenen Nacken nicht anzusehen.
Wenig später hob sie ihren Bruder auf und trug ihn weg von dem Gefechtslärm. Eine Frau saß am Flussufer, und beim Näherkommen sah Zwei Himmel, dass es ihre Schwester war. Große Frau war blutverschmiert, doch sie erzählte Zwei Himmel, dass es nicht ihr Blut sei, sondern das eines Soldaten, der sie vergewaltigt habe und dabei von einer Kugel in die Seite getroffen worden sei. Es war ihr gelungen, unter seinem blutigen Körper herauszukriechen, und obwohl er die Hand gehoben und sie in seiner Sprache um Hilfe angefleht hatte, hatte sie einen Stein genommen und ihn erschlagen.
Sie konnte zwar ihre Geschichte zu Ende erzählen, doch sie verstand nichts mehr, als Zwei Himmel ihr vom Tod der Mutter berichtete. Die Schreie und die Schüsse kamen immer näher. Zwei Himmel trug ihren Bruder und führte ihre Schwester tief in das Unterholz am Ufer, und dort kauerten sich die drei zusammen. Große Frau schwieg, aber Der Land besitzt schrie unaufhörlich, und Zwei Himmel musste befürchten, dass die Soldaten ihn hörten und sie entdeckten.
Weitere Kostenlose Bücher