Medicus 02 - Der Schamane
Reaktion kam, klatschte sie laut in die Hände. Fünf Gesichter wandten sich ihr zu, doch eines nicht.
Im anderen Zimmer spielten die Musiker jenes Mozart-Duo, das sie am besten gemeinsam spielten und in dem sie als Künstler glänzten. Rob war sehr erstaunt, als Lillian sich plötzlich vor ihn stellte und seinen Bogen mitten in einer Passage anhielt, die er besonders liebte. »Dein Sohn«, sagte sie, »der kleine. Er hört nichts.«
Das stille Kind
Während seines lebenslangen Kampfes um die Linderung von Leiden, die körperliche und seelische Defekte mit sich bringen, wunderte Rob J. sich immer wieder, wie sehr es ihn traf, wenn der Patient jemand war, den er liebte. Er hatte für alle Sympathie, die er behandelte, auch für solche, die die Krankheit böse gemacht hatte, und sogar für jene, die schon vor ihrer Krankheit böse gewesen waren, denn indem sie seine Hilfe suchten, wurden sie in gewisser Weise zu den Seinen. Als junger Arzt in Schottland hatte er seine Mutter immer schwächer werden und auf den Tod zugehen sehen, und das hatte ihm schmerzhaft vor Augen geführt, wie machtlos er letztlich als Mediziner war. Jetzt schmerzte ihn tief, was diesem starken, stämmigen Jungen widerfahren war, der seinem Samen und seiner Seele entsprungen war. Shaman lag nur benommen da, während sein Vater in die Hände klatschte, schwere Bücher zu Boden fallen ließ und ihn anschrie. »Kannst... du... etwas... hören... Sohn?« schrie Rob und deutete auf seine eigenen Ohren, doch der kleine Junge starrte ihn nur verwirrt an. Shaman war vollkommen taub geworden. »Wird es wieder vergehen?« fragte Sarah ihren Mann. »Vielleicht«, antwortete Rob, doch er sorgte sich noch mehr als sie, weil er mehr wusste und Tragödien miterlebt hatte, die sie sich kaum vorstellen konnte.
»Du wirst schon dafür sorgen, dass es wieder vergeht.« Sie hatte absolutes Vertrauen in ihn. So, wie er einst sie gerettet hatte, würde er auch ihr Kind heilen.
Rob J. wusste zwar nicht, wie er vorgehen sollte, aber er versuchte es. Er goss Shaman warmes Öl in die Ohren. Er badete ihn heiß, legte Kompressen an. Sarah betete zu Jesus. Die Geigers beteten zu Jahwe. Makwa-ikwa schlug ihre Wassertrommel und sang zu ihren Manitus und Geistern. Weder Gott noch Geist schienen darauf zu achten. Weder Gott noch Geist erhörten das Flehen.
Am Anfang war Shaman zu verblüfft, um Angst zu haben. Doch schon wenige Stunden später begann er zu wimmern und zu schreien. Er schüttelte den Kopf und griff sich an die Ohren. Sarah glaubte schon, die schrecklichen Ohrenschmerzen würden wieder einsetzen, doch Rob wusste, es war etwas anderes, denn er kannte das von früheren Fällen. »Er hört Geräusche, die wir nicht hören können. In seinem Kopf.« Sarah erbleichte. »Stimmt mit seinem Kopf etwas nicht?«
»Nein, nein.« Er konnte ihr sagen, wie man das Symptom nannte- Tinnitus -, aber er konnte ihr nicht sagen, was die Geräusche hervorrief, die nur Shaman hörte und sonst niemand.
Shaman hörte nicht auf zu weinen. Sein Vater, seine Mutter und Makwa lagen abwechselnd in seinem Bett und drückten ihn an sich. Erst später sollte Rob erfahren, dass sein Sohn eine Vielzahl von Geräuschen hörte: Knistern, Rauschen, Dröhnen, Zischen. Sie alle waren sehr laut, und Shaman lebte in beständiger Angst. Doch dieser innerliche Höllenlärm verschwand nach drei Tagen. Shaman war mehr als erleichtert, und die wiedergefundene Stille tröstete ihn sehr, aber die Erwachsenen, die ihn liebten, waren gepeinigt von der Verzweiflung in dem kleinen, blassen Gesicht. An diesem Abend schrieb Rob an Oliver Wendell Holmes in Boston und fragte ihn, ob er eine Therapie gegen Taubheit kenne. Darüber hinaus bat er Holmes, für den Fall, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gab, ihm Informationen zur Erziehung eines tauben Sohnes zu schicken. Keiner wusste, wie sie Shaman behandeln sollten. Während Rob J. nach einer medizinischen Lösung suchte, war Alex es, der die Verantwortung übernahm. Obwohl das Unglück, das seinem Bruder widerfahren war, ihn verwirrte und ängstigte, passte er sich der Situation schnell und geschickt an. Er nahm Shamans Hände und ließ sie nicht mehr los. Wohin der ältere Junge auch ging, folgte ihm der jüngere. Wenn ihre Finger sich verkrampften, wechselte Alex die Seite und nahm die andere Hand. Shaman gewöhnte sich sehr schnell an die Sicherheit, die Biggers schweißige, oft schmutzige Hände ihm boten. Alex passte sehr genau auf ihn auf. »Er will
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