Medicus von Konstantinopel
können, und selbst eine Seeblockade hätte nicht ganz so verheerende Auswirkungen nach sich gezogen.
Jener Schneider zählte inzwischen auch bei Hof zu den einflussreichsten und vor allem bestinformierten Persönlichkeiten. Sein Name war Silvestre Sarto, unter den Genuesern wurde er hinter vorgehaltener Hand oft auch Silvestre il Pio – der Fromme – genannt, weil der amtierende ökumenische Patriarch von Konstantinopel ihn einst aus Ferrara mitgebracht hatte, wo er für viele Jahre als Gesandter der Ostkirche an jenem Konzil teilgenommen hatte, auf dem letztendlich die Kirchenunion beschlossen worden war. Eine Kirchenunion allerdings, die bislang weitgehend ohne praktische Auswirkungen geblieben war und zu einem tiefen Riss innerhalb der Geistlichkeit in Rom, aber mehr noch in Konstantinopel geführt hatte.
Maria kannte Silvestre Sarto, seit sie fünfzehn war. Ihre Eltern waren in der Villa des Schneidermeisters zu Gast gewesen – einerseits um Maß nehmen zu lassen für ein paar Kleidungsstücke, die anzufertigen waren, aber andererseits auch, um bei Ser Silvestre die letzten Neuigkeiten zu erfahren: wie am Hof gerade die Stimmung war, wer in Ungnade zu fallen drohte und wer im Begriff stand, hoch emporzusteigen. Silvestre hatte einen so ungehinderten Zugang zu den Mächtigen der Stadt wie sonst kaum jemand. Zudem war es erheblich von Vorteil, dass man ihn als Person kaum wahrzunehmen schien und in seiner Gegenwart recht ungeniert Dinge zur Sprache brachte, die eigentlich für niemandes Ohren bestimmt waren. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie ihn in dieser Stunde hier im Palast antreffen würden, denn die Audienz, zu der die Vertreter des Hauses di Lorenzo geladen waren, war selbstverständlich nicht nur ihnen allein gewährt worden, sondern einer größeren Zahl von Würdenträgern, Kaufleuten und anderen Persönlichkeiten, die aus irgendeinem Grund für wert befunden wurden, dass der Kaiser ihnen für ein paar Augenblicke seine Aufmerksamkeit schenkte.
Wenig später erreichten die beiden die Türen zum Audienzsaal. Andernorts wäre jede einzelne von ihnen manchem Stadttor ebenbürtig gewesen. Wächter standen davor. Außerdem erwartete sie alle dort einer der untergeordneten Logotheten des Kaisers, deren vornehmste Aufgabe es ursprünglich war, für den Herrscher Konstantinopels das Wort an seine Untergebenen zu richten und umgekehrt die Anliegen der Untertanen und Bittsteller an den Herrscher zu übermitteln. Wie Maria wusste, hatte das Hofzeremoniell im Lauf der Jahre jedoch viel von seiner Strenge und Förmlichkeit verloren. Bisweilen war es sogar möglich, dass der Kaiser der Rhomäer das Wort direkt an jemanden richtete, was früher zumindest in der Öffentlichkeit einer Audienz vollkommen undenkbar gewesen wäre.
Dieser untergeordnete Logothet hieß Nektarios. Maria kannte ihn als häufigen Gast im Haus ihres Vaters, und er war ihr schon als Kind durch seine eigentümlichen Augen aufgefallen. Durch eine Laune der Natur war ein Auge grün und das andere blau, was aber nur auffiel, wenn man ihm geradewegs ins Gesicht sah.
Sein Einfluss war gering, dafür war bei Nektarios der Hass auf die Lateiner weitaus weniger ausgeprägt als bei vielen anderen Mitgliedern der erlauchten Gesellschaft aus Adel und Geistlichkeit, die am Hof den Ton angab.
»Seid über die Maßen gegrüßt«, sagte Nektarios in einem sehr förmlich gehaltenen Griechisch, wie es unter den Beamten des Hofes üblich war.
»Es freut mich, Euch zu sehen, Nektarios«, erwiderte Maria mit einem Kopfnicken.
»Es ist tragisch, was mit Euren Eltern geschehen ist. Immerhin kann ich Euch versichern, dass der Kaiser Euer Leid ermessen kann.«
Nektarios sprach es nicht aus, aber Maria wusste nur zu gut, worauf der niedere Logothet anspielte. Schließlich war allgemein bekannt, dass seine Frau vor Jahren ebenfalls an der Pest gestorben war.
»Wir vertrauen auf den Herrn – und darauf, dass er uns einen Weg weist, den wir gehen können und der uns nicht größere Leiden abverlangt, als wir zu ertragen vermögen«, sagte Maria ruhig und mit dem Blick auf den Logotheten gerichtet.
Nektarios bekreuzigte sich. Dann erst führte er Maria, Marco und Davide Scrittore in den eigentlichen Audienzsaal, in dem sich bereits zahlreiche Männer und Frauen versammelt hatten, die alle zur Stunde in den Palast geladen worden waren.
Unter ihnen war wie erwartet auch Ser Silvestre Sarto, der Davide Scrittore kurz zunickte und anschließend Marco und Maria
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