Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medicus von Konstantinopel

Medicus von Konstantinopel

Titel: Medicus von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Walden
Vom Netzwerk:
Großes bestimmt zu sein«, meinte Martin. »Bei mir ist das nicht der Fall. Zumindest was Letzteres betrifft, sind sich meine Lehrer und mein Vater einig. Aber ich will mich nicht beklagen. Schließlich gibt es Schlimmeres.« Nachdem er das gesagt hatte, wurde Martin sehr nachdenklich, und sein Blick glitt zur gegenüberliegenden Seite des Tisches, wo man Agnes Brookinger hatte Platz nehmen lassen. Stumm und mit einem stieren Blick saß sie da und wirkte so, als würde sie etwas anstarren, das allen anderen vollends verborgen blieb. Ihr Haar war zu einem einfachen Knoten zusammengefasst, und sie trug ein kostbares, mit edlen golddurchwirkten Stickereien versehenes Kleid, das zur Aussteuer ihrer Mutter gehört hatte und von dieser auch früher häufig zu festlichen Anlässen dieser Art getragen worden war. Inzwischen war Margarete Brookinger das Kleid allerdings zu eng geworden, und so trug Agnes es, die außerordentlich schlank war, da sie nicht viel aß.
    Auf ihrer Brust ruhte ein Amulett mit einem Bernstein, in dem ein Insekt gefangen war. Genauso gefangen schien sich Agnes in ihrem Dasein zu fühlen. Immer wieder berührte sie das Amulett mit den Fingerspitzen der linken Hand, so als sollte es ihr auf magische Weise Kraft und Halt geben. Später hob sie etwas den Kopf und sah Wolfhart an. Natürlich hatte Wolfhart seine Schwester zuvor begrüßt und sie angesprochen, war sich aber wie bei jeder Begegnung mit ihr nicht sicher, ob sie ihn wirklich verstanden hatte. Es war Wolfhart nicht einmal klar gewesen, ob sie überhaupt erkannt hatte, wer vor ihr stand. Das war nichts Neues. Von dem freundlichen, lebensfrohen Mädchen, das sie damals war, bevor die Schrecken des Schwarzen Todes diesen Schatten über ihre Seele geworfen hatten, war nichts geblieben.
    Sie schaute nun hoch, und für einen Moment sahen sie sich an. Der Schleier, der sonst ihre Augen zu umgeben und ihre Blicke ins Unbestimmte zu verwischen schien, war auf einmal nicht mehr da. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie nannte Wolfharts Namen. Wolfhart sah es an den Bewegungen ihrer Lippen, denn hören konnte er ihre Stimme nicht. Zu lärmend waren die Gespräche, die unter den Gästen des Ältermanns der Bergenfahrer geführt wurden.
    »Agnes!«, brachte Wolfhart vollkommen überrascht hervor. Allein dieser Moment, in dem seine Schwester ihn in voller Klarheit ansah, währte nicht länger als ein paar Herzschläge lang. Danach schien sie wieder geradewegs durch ihn hindurchzusehen, so als wäre da niemand.
    »Es wird nicht mehr besser mit ihr«, hörte er neben sich Martin sagen, der die Veränderungen in Agnes’ Gesicht offenbar ebenfalls beobachtet hatte. »Ich bin leider zu jung, um mich noch daran erinnern zu können, wie sie früher gewesen ist.«
    »Ich erinnere mich noch gut daran«, murmelte Wolfhart, mehr zu sich selbst, als dass er tatsächlich seinen jüngeren Bruder mit diesen Worten angesprochen hätte. Zugleich mit dieser Erinnerung stiegen freilich auch all die anderen Schreckensbilder in ihm empor, die der Schwarze Tod verursacht hatte. Erinnerungen, die er ebenso eingeschlossen in seiner Seele trug, wie es das Insekt im Bernstein von Agnes’ Amulett war. Die Toten, der faulige Geruch, der über der ganzen Stadt gelegen und an faule Eier erinnert hatte, das Wimmern und Husten der Sterbenden, das Knarren der Totenwagen, auf die die Pestknechte die Dahingeschiedenen warfen. An dieses Knarren der Wagenräder, die von niemandem mehr geschmiert werden konnten, weil alle, die sich darauf verstanden hätten, entweder krank oder tot waren, würde er sich bis ans Ende seiner Tage erinnern. Noch heute erschrak er manchmal, wenn ein Wagen in seiner Nähe daherfuhr, bei dem der Fuhrmann allzu sehr mit dem Pech an Rädern und Achsen gespart hatte. Wolfhart schluckte. Agnes’ Anblick brachte ihm wieder zu Bewusstsein, warum er hierhergekommen war und dass er sich um keinen Preis der Welt von seinem Ziel abbringen lassen würde.
    Dass dies den Hoffnungen seiner Eltern, insbesondere den Plänen seines Vaters bezüglich des Handelshauses, vollkommen zuwiderlief, musste er dabei in Kauf nehmen. Morgen, dachte er, morgen in aller Frühe werde ich gehen – mit nichts als dem, womit ich hergekommen bin.
    Am Morgen hatte er seine Sachen gepackt und machte sich zur Abreise bereit. Die feinen Kleider seines Vaters, die er noch während des Banketts getragen hatte, ließ er zurück. Dann ging er in die Kanzlei, die sich im Erdgeschoss des

Weitere Kostenlose Bücher