Medienmuendig
festmachen kann, ob eine Situation als Vorübung zur Medienmündigkeit geeignet ist: vielleicht Kassetten aufnehmen, Theaterspielen, Fotoalben anschauen, Briefe schreiben. Dazu passt die Aussage von Medienwissenschaftlern, die Zeitung sei ideales Trainingsmedium für die spätere Internetnutzung, weil sie alle Vorteile ohne die Nachteile biete. 29 Allgemeiner gesprochen gibt es für die Entscheidung, ob ein Medium als »Trainingsmedium« oder »Trainingsfortbewegungsmittel« taugt, mindestens drei wichtige Kriterien:
Das Kind sollte aus seinen Fehlern lernen können (Fehlerfreundlichkeit, s. Anmerkung 62).
Es sollte die Folgen seiner Handlungen überblicken können (Verstehbarkeit).
Es sollte genügend Zeit für Entscheidungen haben (Langsamkeit).
Da diese Kriterien beim Autofahren nicht gegeben sind, gibt es praktische Fahrstunden erst frühestens ab sechzehneinhalb. Und beim Bildschirmmedienkonsum? Die Langsamkeit und die Verstehbarkeit sind jedenfalls nicht gegeben, auch nicht, wie sich bei genauerer Betrachtung noch zeigen wird, die Fehlerfreundlichkeit. Zur Fehlerfreundlichkeit würde nämlich auch gehören, dass negative Konsequenzen (»Fehler«) erkennbar sind, denn nur so kann ich aus ihnen lernen. Die schädlichen Folgen des frühen Bildschirmmedienkonsums (vgl. Kap. 7, Übergewicht,Schulversagen, Medienabhängigkeit, Veränderungen im Weltbild) treten aber mit wesentlich größerer zeitlicher Verzögerung als die Schäden beim Autofahren, und zudem in komplexeren multifaktoriellen Wirkungszusammenhängen auf. Das bedeutet, dass ein gut informierter, ausgebildeter Wissenschaftler diese negativen Folgen auf den Bildschirmmedienkonsum zurückführen kann. Ein Erwachsener, der sich mit der Materie beschäftigt, wird dies höchstwahrscheinlich noch nachvollziehen können, ein Kind dagegen ganz sicher nicht.
Die Pädagogik der Mündigkeit und ihre Vordenker
Wer sich Gedanken um Mündigkeit macht, wird irgendwann auf die Reformpädagogik stoßen und Hartmut von Hentig begegnen. Warum? Mündigkeit ist das Grundprinzip der Reformpädagogik. 30 Eines steht fest: Wo es um Erziehung zur Freiheit, Erziehung zur Autonomie geht, kann es keine Patentrezepte geben.
Falls Sie noch zweifeln: Kennen Sie die Szene aus
Das Leben des Brian
, in der ein Heer von Jüngern einem Anführer folgt, der keiner sein will? Der arme Anführer: Er versucht immer wieder deutlich zu machen, dass die selbst ernannten Jünger ihm bitte nicht folgen sollen. Seine Gefährten glauben ihm alles, was er sagt, halten alles für bedeutsam, was er tut, und als er schließlich verzweifelt ausruft: »Ihr seid doch alle Individuen!«, schallt es wie ein Echo aus ihren Kehlen brav und gehorsam zurück: »Ja, wir sind alle Individuen!«
In einem Ratgeber »Medienmündig – in 10 einfachen Schritten garantiert zum Erfolg!« wäre es mit der Mündigkeit etwa so weit her wie mit der Individualität der Jünger aus dem Film. Verabschieden Sie sich also Schritt für Schritt von der Idee, dass es so etwas wie eine »Gebrauchsanleitung« für Kinder gäbe, oder einen Ratgeber, der Kinder garantiert medienmündig macht. Gerade darum kann es nicht gehen. Wer die »Produktion optimaler Exemplare« 31 nach pädagogischem Rezept vorschlägt,gefährdet die Freiheit: die Freiheit des Erziehenden, des Erzogenen, die Freiheit des Individuums überhaupt. Weder Sie noch ich »machen« unsere Kinder medienmündig. Sie werden es, und zwar mit unserer Hilfe, auch indem wir sie vor Dingen schützen, die ihr Wachstum gefährden würden. Dazu brauchen wir Zuversicht, Zeit, Geduld, gute Nerven und eine Art Landkarte, auf der Mündigkeit als Ziel beschrieben ist. Viele Wege führen zu diesem Ziel. Einige Wege führen direkt in die Irre, andere scheinbar zum Ziel, aber dafür auf höherer Ebene in die Unmündigkeit, in ein Korsett pädagogischer Bevormundung auf der Meta-Ebene. Damit kommen wir zu Hartmut von Hentig, der elegant wie kein anderer den Gedanken der Bevormundung zum Schutz vor Bevormundung, der Manipulation zum Schutz vor Manipulation ausgedrückt hat. Schon vor 40 Jahren zeigte er sich besorgt darüber, dass neben der Entfremdung der Arbeit nun auch der Bereich der Freizeit mehr und mehr von Entfremdung betroffen sein könnte. Den Gedanken einer Freizeitschule, wo Leute ausgebildet werden, die anderen wiederum sagen, wie man in Zukunft die Freizeit vernünftig zu verbringen hat, hält Hentig für widersinnig:
Die Aufgabenlisten der »Pädagogischen
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