Medienmuendig
wünschen, müssen wir uns vorab eines klar machen: Wir wissen nicht, wie diese Welt aussehen wird. Wie hätten denn Großeltern von heute ahnen können, dass ihre Enkel einmal googeln und simsen, chatten und skypen?
Den Menschen durch die evolutionsbiologische Brille zu betrachten, ihn also auf eine Stufe mit den Bakterien zu stellen,hat zwar einige Nachteile, von denen weiter unten noch die Rede sein soll, aber für die Frage nach Fähigkeiten, die unter wechselhaften Umweltbedingungen vorteilhaft sind, lohnt sich ein Exkurs über den Begriff »Fitness« aus evolutionsbiologischer Sicht sehr: Was bedeutet evolutionär gesehen eigentlich »Fitness«? 38 Evolutionäre Fitness ist, ganz im Gegensatz zur alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs Fitness, eine retrospektive Größe; sie ist ausschließlich in der Rückschau zu fassen. Weder für die Gegenwart noch erst recht für die Zukunft kann man evolutionäre Fitness eines Individuums angeben, denn: Fit war derjenige, dessen Nachkommen heute noch da sind.
Fitness ist die Überlebenstüchtigkeit eines Individuums in Bezug auf eine bestimmte Umgebung, die in Zukunft anders aussieht als heute. Für die Zukunft kann man daher allenfalls von
Überlebens wahrscheinlichkeiten
sprechen. Dieses »Passen« von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten zu bestimmten Umwelten lässt sich elegant am Beispiel von Türschlössern und Schlüsseln veranschaulichen.
»In einem ersten Ansatz soll die Aufgabe darin bestehen, den Schlüssel auszusuchen, der in ein vorgegebenes, stabiles Schloss am besten passt. Das ist leicht. Denken wir aber stattdessen an eine hochkomplexe und ständig sich ändernde Umgebung, kommen wir der Wirklichkeit der natürlichen Evolution sehr viel näher. Das würde bedeuten, dass es nicht vorgegebene, sondern veränderliche Schlösser gibt, und immer wieder Schlüssel gefunden werden müssen, die in diese variablen Schlösser passen. Was für eine verwirrende und nicht dauerhaft lösbare Aufgabe für einen zentralen Schlüsseldienst!« 39
Je ungewisser die zukünftiegen Umweltbedingungen sind, desto ungewisser ist auch, mit welchen Eigenschaften ein Organismus in dieser Zukunft erfolgreich sein wird. Je bunter gemischt und je vielfältiger eine Population, desto eher ist sie unter schnell sich verändernden Umweltbedingungen überlebensfähig.
Was aber bedeuten diese Überlegungen für die Erziehung vonKindern, die »fit für die Zukunft« gemacht werden sollen? Die sogenannte »Medienwelt« zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie sich sehr schnell verändert, so sehr, dass man daran zweifeln muss, um bei dem Schlüssel-Schloss-Vergleich zu bleiben, ob Türverriegelungen überhaupt noch durch Schlüssel geöffnet werden, wenn unsere Kinder erwachsen sind. Vielleicht sind es Magnetkarten oder Spracherkennungssysteme?
Joseph Weizenbaum (vgl. S. 146 f.) erkannte als eine der Ursachen für den Mangel an kreativem Nachwuchs in der Informatikbranche gerade die Tatsache, dass Kinder in Amerika zu früh an bestimmte Technologien herangeführt werden, die sehr schnell veralten. Diese nutzlosen Schlüssel für veraltete Schlösser sind ihnen dann später als Erwachsenen sehr im Wege, wenn es um eigene neue Ideen im IT-Bereich geht. Bildung, die den neuesten Versionen der neuesten Software-Entwicklungen hinterherhechelt (nachhinkende Bildung), erwirkt aus diesem Blickwinkel vor allem eins: Kinder vertun Jahre ihres Lebens, um technische Fertigkeiten zu erwerben, die in 15 Jahren völlig veraltet sind. Ist dagegen nachhaltige Bildung das Ziel, dann sollte man den Kindern viel Zeit lassen, um der Neugier und dem schöpferischen Erfindungsgeist Zeit zum Reifen zu geben. Aber wie erwerben denn Kinder die Fähigkeit, kreativ mit Neuem umzugehen? Das fragen sich Entwicklungsexperten seit Jahrhunderten. Und die Antwort, auch wenn es für den modernen Beschleunigungspädagogen schwer erträglich scheint: Spielen, Spielen, Spielen.
Spielen war auch für Evolutionsbiologen lange Zeit ein Rätsel. Wie kann etwas Überflüssiges Sinn machen? Spielen ist eine Tätigkeit ohne unmittelbar erkennbaren Überlebensvorteil; es ist »überflüssig«. Es dient weder der Nahrungsaufnahme noch der Fortpflanzung noch der Revierverteidigung. Gordon Burkhardt beschreibt in seinem Buch
Die Entstehung des Spiels bei Tieren
weitere Eigenschaften: Es handelt sich um Tätigkeiten, die Tiere freiwillig und wiederholt durchführen, meist dann, wenn sie satt und gesund sind
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