Meditation für Skeptiker: Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst (German Edition)
können und alles um sich herum vergessen? Falls ja, dann »vergessen« Sie nicht nur die unmittelbare Umgebung, in der Sie sich befinden, sondern blenden auch Ihren Körper aus. Sich vorübergehend an andere Orte, in andere Zeiten und Personen versetzen zu können, ist eine bemerkenswerte Fähigkeit. In diesem Buch wird jedoch keine fiktive Geschichte erzählt. Sie werden vielmehr dazu angeleitet, Ihre Bewusstheit der gegenwärtigen Situation zu steigern, sich also ganz in das Hier und Jetzt und in sich selbst hineinzuversetzen.
Wenn Sie sich selbst fragen, wie Sie sich gerade fühlen, oder jemand anderes Sie fragt »Fühlst du dich gut?«, dann rufen Sie augenblicklich den aktuellen Zustand Ihres körperlichen und emotionalen Befindens ab. Diese Information ist zwar ständig abrufbar, bleibt jedoch die meiste Zeit im Hintergrund. In welchen Situationen richten Sie Ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Ihren Körper? Wenn Sie Schmerzen haben; wenn Sie Hunger, Durst oder ein übervoller Magen quält; wenn Sie dringend eine Toilette aufsuchen möchten; wenn Sie in der Badewanne liegen oder unter der Dusche stehen; wenn Sie von einem anderen Menschen liebkost werden; wenn Sie Sport treiben; wenn Sie von einer Begegnung oder Geschichte emotional sehr bewegt werden … Körpergefühle treten in alltäglichen Situationen nur dann in den Vordergrund, wenn sie eine hinreichende Intensität erreichen. In der Meditation können Sie lernen, auch subtile Empfindungen wahrzunehmen, die Ihnen ansonsten nicht bewusst werden würden.
In diesem Kapitel geht es zunächst um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Stellenwert von Körpergefühlen für Emotionen, für die Entscheidungsfindung in komplexen Situationen und für die Identität. Untersuchungen mit Meditierenden zeigen, wie durch Übung die Selbstwahrnehmung verfeinert werden kann und positive Emotionen entwickelt werden können.
Stand der Forschung
Körpergefühle und emotionale Bewusstheit
Nicht nur zahlreiche Redewendungen weisen darauf hin, dass Emotionen mit bestimmten körperlichen Empfindungen verknüpft sind (siehe Einführungskapitel), auch in der wissenschaftlichen Theoriebildung wurde schon früh von einer körperlichen Verankerung der Emotionen ausgegangen. So beschrieb beispielsweise die James-Lange-Theorie Emotionen als Begleiterscheinungen körperlicher Prozesse. Es sind die charakteristischen Empfindungen und körperlichen Reaktionen, die eine Situation in uns auslöst, die die jeweilige Emotion ausmachen: Angst, Wut, Ekel, Freude, Trauer, Liebe – alle starken Emotionen gehen mit Empfindungen im Körper und äußeren Anzeichen wie Lachen, Weinen und typischen Gesichtsausdrücken einher.
Eine Hirnstruktur, die bei der Wahrnehmung von Körpergefühlen offenbar eine herausragende Rolle einnimmt, ist der Inselcortex . In einer Reihe von Publikationen hat Craig (2002, 2003, 2004, 2009) herausgearbeitet, dass im vorderen Inselcortex der rechten Hirnhälfte eine Meta-Repräsentation des gefühlten Leibes gebildet wird. Dort fließen Informationen aus dem Körperinneren zusammen, bilden die Grundlage dafür, dass wird, uns als lebendigen Leib spüren, und ermöglichen uns eine Bewusstheit unseres aktuellen emotionalen Zustands. Wenn Sie sich also fragen: Wie fühle ich mich jetzt? Dann ist es insbesondere diese Hirnregion, die Sie aktivieren, um Ihr aktuelles Befinden abzurufen.
Jüngste Studien, in denen die Hirnstruktur von Meditierenden mit der von Nicht-Meditierenden verglichen wurde, ergaben, dass der Inselcortex der rechten Hirnhälfte bei Meditierenden dicker ist bzw. eine größere Dichte der Nervenzellen aufweist (Hölzel et al., 2008; Lazar et al., 2005). In diesen Studien handelte es sich bei den Untersuchten um Meditierende der Vipassana- Tradition, die mit der Aufmerksamkeit systematisch den Körper durchwandern ( body scan , siehe unten). Die Autoren vermuten, dass das regelmäßige Üben zu einem Wachstum der Nervenzellen geführt haben könnte. Allerdings könnten die Unterschiede auch schon vor Aufnahme der Meditationspraxis bestanden haben, so dass der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen Übung und Nervenwachstum in dieser Region künftigen Längsschnittsstudien vorbehalten bleibt.
Die Möglichkeit einer erweiterten Wahrnehmung von Körperempfindungen durch systematisches Training im Zuge der Meditationspraxis hat weitreichende Konsequenzen, denn ein verfeinertes emotionales Gespür wirkt sich auch auf Denk- und
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