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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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hinauf und hielten an.
    Chico saß zwei oder drei Minuten da und wartete, bis seine Fäuste sich entspannten, dann schnaubte er:
    »Verdammt. Ich glaube, es wendet sich doch alles zum besten.« Er holte tief Luft. »Eben fällt es mir ein. In zwanzig, dreißig Jahren wird mitten in der Nacht unser Telefon klingeln. Ein Ferngespräch von einem der beiden Jungen, die inzwischen erwachsen sind, aus irgendeiner Bar. Mitten in der Nacht rufen sie an, um zu fragen: ›Es ist doch wahr, ja?‹ werden sie sagen. ›Es ist doch so gewesen, nicht wahr? Damals, neunzehnhundertachtundfünfzig, haben wir das wirklich erlebt?‹ Und wir sitzen da mitten in der Nacht auf dem Bettrand und sagen: ›Natürlich, Jungs, das haben wir wirklich erlebt.‹ Und sie sagen: ›Danke‹, und wir sagen: ›Keine Ursache, ihr könnt jederzeit gern anrufen.‹ Und wir sagen uns gute Nacht. Und vielleicht rufen sie dann ein paar Jahre lang nicht mehr an.«
    Die beiden Männer saßen auf den Stufen ihrer Veranda im Dunkeln.
    »Tom?«
    »Was?«
    Chico wartete einen Augenblick.
    »Tom… du fährst nächste Woche nicht weg.«
    Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
    Tom dachte darüber nach; die erloschene Zigarette hing zwischen seinen Fingern. Er wußte, daß er jetzt nie mehr wegfahren konnte. Morgen und alle Tage danach würde er hinuntergehen und dort in den grünen und weißen Feuern und den dunklen Höhlen der seltsamen Wellen schwimmen gehen. Morgen und übermorgen.
    »Ja, Chico, ich bleibe hier.«
    Jetzt rückten die silbernen Spiegel in vielfältig gebrochener Linie tausend Meilen weiter südlich und tausend Meilen nördlich an der ganzen Küste vor. Die Spiegel reflektierten weder Haus noch Baum, weder Straße noch einen Wagen oder einen Menschen. Sie reflektierten nur den stillen Mond und zerbrachen dann in eine Milliarde von Glassplittern, die sich schimmernd an der Küste verstreuten.
    Dann wurde das Meer für eine Weile dunkel, bevor es eine neue Reihe von Spiegeln aufstellte, um die beiden Männer zu überraschen, die lange Zeit dasaßen, ohne auch nur einmal zu blinzeln, und warteten.

 
Das Erdbeerfenster
     
     
     
    Am Traum schloß er die Haustür mit ihren erdbeerenen und zitronigen Fenstern, den Fenstern wie weiße Wolken und klares Bachwasser draußen auf dem Land. Zwei Dutzend Scheiben ordneten sich um die eine große Scheibe in den Farben von Fruchtweinen, Gelatine und kühlem Eis. Er erinnerte sich, wie sein Vater ihn als Kind hochgehoben hatte. »Schau!« Und durch das grüne Glas sah man die Welt smaragden, moosfarben und wie Sommerminze. »Schau!« Die lila Scheibe verwandelte alle Vorbeigehenden in fahle Trauben. Und schließlich tauchte das Erdbeerglas die Stadt in rosa Wärme, überzog die Welt mit einem rosa Sonnenaufgang, und der gemähte Rasen sah aus, als sei er aus einem persischen Teppichbasar importiert. Das Erdbeerfenster nahm den Menschen ihre Blässe, es wärmte den kühlen Regen und steckte den fallenden, wehenden Februarschnee in Brand.
    »Ja, ja! Dort…!«
    Er wachte auf.
    Er hörte seine Söhne reden, bevor er ganz aus dem Traum auftauchte, und jetzt lag er im Dunkeln und lauschte ihren Stimmen, die traurig klangen, als bliese der Wind den weißen Meeressand in die blauen Hügel hinein, und dann erinnerte er sich.
    Wir sind auf dem Mars, dachte er.
    »Was?« rief seine Frau im Schlaf.
    Er hatte nicht bemerkt, daß er gesprochen hatte; er lag so still wie möglich. Aber jetzt sah er in einer seltsamen, wie betäubten Wirklichkeit, daß seine Frau aufstand und durch das Zimmer wanderte; ihr bleiches Gesicht starrte durch die hohen kleinen Fenster ihrer Hütte auf die klaren, aber fremden Sterne.
    »Carrie«, flüsterte er.
    Sie hören ihn nicht.
    »Carrie«, flüsterte er wieder. »Ich muß dir etwas sagen… morgen… morgen… morgen früh wird…«
    Aber seine Frau saß ganz in sich gekehrt im blauen Sternenlicht und sah ihn nicht an.
    Wenn nur die Sonne nicht unterginge, dachte er, wenn nur die Nacht nicht käme. Denn tagsüber baute er die Siedlung auf, die Jungen waren in der Schule, und Carrie war mit Saubermachen, Gartenarbeiten und Kochen beschäftigt. Aber wenn die Sonne fort war und ihre Hände keine Blumen, keine Hämmer und Nägel hielten oder Rechenaufgaben schrieben, dann kehrten ihre Gedanken nach Hause zurück.
    Seine Frau bewegte leicht den Kopf.
    »Bob«, sagte sie endlich, »ich möchte nach Hause.«
    »Carrie!«
    »Dies ist kein Zuhause«, sagte sie.
    Er sah ihre

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