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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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zeigte auf die Küste hinter sich.
    »Eine Frau, eine komische Frau am Nordfelsen!«
    »Eine Frau!« Die Worte platzten aus Chicos Mund, und er fing an zu lachen. »Na so was!«
    »Was soll das heißen, eine ›komische‹ Frau?« fragte Tom.
    »Ich weiß nicht«, rief der Junge mit weit aufgerissenen Augen. »Sie müssen selbst hingehen. Furchtbar komisch!«
    »Du meinst, ertrunken?«
    »Vielleicht. Sie kam aus dem Wasser und liegt an der Küste. Sie müssen selbst sehen… komisch…« Die Stimme des Jungen erstarb. Er starrte wieder nach Norden. »Sie hat einen Fischschwanz.«
    Chico lachte. »Bitte nicht vor dem Essen.«
    »Bitte!« schrie der Junge jetzt, vor Ungeduld hüpfend. »Ich lüge nicht. Beeilen Sie sich!«
    Er lief fort, spürte, daß man ihm nicht folgte, und sah sich bestürzt um.
    Tom fühlte, wie seine Lippen sich bewegten. »Der Junge würde doch wohl nicht aus Spaß so weit laufen, was, Chico?«
    »Manche Leute sind schon für weniger als das weiter gelaufen.«
    Tom setzte sich langsam in Bewegung. »Na gut, mein Junge.«
    »Danke, Mister, danke!«
    Der Junge lief voraus. Nach zwanzig Metern sah Tom sich um. Hinter ihm stand Chico, sah ihm verstohlen nach, zuckte die Achseln, wischte sich müde die Hände und folgte ihm.
    Sie schritten am dämmerigen Strand nach Norden, die Haut um die bleichen, verbrannten Augen verwittert, mit winzigen Falten; aber sie wirkten jünger, da ihr Haar dicht am Schädel abrasiert war, so daß man das Grau nicht sehen konnte. Es ging ein schöner Wind, und das Meer stieg an und fiel mit langen Stößen zurück.
    »Was tun wir«, sagte Tom, »wenn wir zum Nordfelsen kommen und es ist wahr und das Meer wirklich etwas heraufgespült hat?«
    Aber bevor Chico antworten konnte, war Tom fort. Seine Gedanken stürmten an Küsten entlang, die mit hufeisenförmigen Krabben, Dollars aus Sand, Seesternen, Seetang und Steinen besät waren. Er hatte oft über das Leben im Meer gesprochen, und jetzt fielen ihm beim Wellenschlag der atmenden See die Namen wieder ein: Tintenfische, flüsterten die Wellen, Kabeljaue, Schellfische, Hundshaie, Klippfische, Schleie, See-Elefanten, flüsterten sie, Lachse, Flundern und Weißwale, Schwertfische und Seehunde… man fragte sich immer, wie diese Wesen mit ihren bedeutungsvollen Namen wohl aussehen mochten. Vielleicht sah man sie ja nie im Leben näher als in sicherer Entfernung von der Küste über den Salzwiesen emportauchen, aber sie waren da, und ihre Namen formten zusammen mit tausend anderen Namen Bilder. Und man blickte hinaus und wünschte, man wäre ein Fregattvogel, der neuntausend Meilen zurücklegen und irgendwann einmal mit der Erinnerung an die ganze Weite des Meeres zurückkommen konnte.
    »Oh, schnell!« Der Junge war umgekehrt und sah Tom ins Gesicht. »Vielleicht ist es ja inzwischen weg!«
    »Nur ruhig, Junge«, sagte Chico.
    Sie kamen an den Nordfelsen. Dort stand ein zweiter Junge und sah hinunter.
    Tom sah aus den Augenwinkeln etwas auf dem Sand liegen, das ihn zögern ließ, genauer hinzusehen, so daß er statt dessen das blasse Gesicht des Jungen anstarrte, der dort stand und nicht zu atmen schien. Dann und wann fiel es ihm ein, und er holte Luft, die Augen geradeaus gerichtet, aber je mehr sie dort auf den Sand sahen, desto weniger erfaßten sie, sie wurden bleich und leer und schienen wie betäubt. Als das Wasser an seinen Tennisschuhen hinaufstieg, bemerkte er es nicht einmal und rührte sich nicht.
    Tom wandte den Blick zum Sand.
    Und im gleichen Augenblick glich sein Gesicht dem des Jungen. Seine Hände verkrampften sich, sein Mund bewegte sich und blieb halb offen, und seine hellen Augen wurden vom Hinstarren noch blasser.
    Die untergehende Sonne stand dicht über dem Meer.
    »Eine große Welle kam herein und schlug zurück«, sagte der erste Junge, »und dann lag sie hier.«
    Sie betrachteten die Frau, die da lag.
    Ihr Haar war sehr lang und lag wie Saiten einer riesigen Harfe auf dem Strand. Das Wasser strich über die Saiten und trieb sie hinauf, zog sie hinunter und bildete jedesmal einen neuen Fächer und eine neue Silhouette. Das Haar war wohl anderthalb Meter lang und lag lindgrün auf dem festen, nassen Sand.
    Ihr Gesicht…
    Die Männer beugten sich erstaunt vor.
    Ihr Gesicht war eine weiße Sandskulptur; ein paar Wassertropfen schimmerten darauf wie Sommerregen auf einer kremfarbenen Rose. Das Gesicht war wie der Mond bei Tage, wenn er bleich und gleichsam unwirklich am blauen Himmel steht. Es war wie

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