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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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tränennassen Augen. »Carrie, du mußt noch eine Weile durchhalten.«
    »Ich habe vom vielen Durchhalten schon keine Fingernägel mehr.«
    Sie öffnete, als ob sie sich immer noch im Schlaf bewegte, die Kommodenschubladen, nahm Stapel von Taschentüchern, Hemden und Unterwäsche heraus und legte sie auf die Kommode, ohne hinzusehen; ihre Hände faßten die Sachen an, holten sie hervor und legten sie hin. Diese mechanischen Gesten waren ihm nun schon seit langem vertraut. Sie sprach, suchte die Wäsche heraus, stand eine Weile still, und danach legte sie alles wieder fort und kehrte mit ausdrucksloser Miene ins Bett und in ihre Träume zurück. Er fürchtete, daß sie eines Nachts alle Schubladen entleeren und die alten Koffer herausholen würde.
    »Bob…« Ihre Stimme war nicht bitter, sondern sanft, ausdruckslos und so farblos wie das Mondlicht, das zeigte, was sie da tat. »Ich habe seit sechs Monaten jede Nacht so geredet; ich schäme mich. Du baust Häuser in der Stadt, das ist eine schwere Arbeit. Ein Mann, der so schwer arbeitet, sollte nicht einer traurigen Frau zuhören müssen. Aber ich kann nichts anderes tun als es aussprechen. Ich vermisse vor allem die kleinen Dinge. Ich weiß nicht… dumme Sachen. Unsere Schaukel auf der Veranda. An Sommerabenden den Schaukelstuhl aus Rohr. Und wie wir da drüben in Ohio an solchen Abenden die Leute vorbeigehen oder -reiten sahen. Unser hohes schwarzes, verstimmtes Klavier. Meine schwedischen Vasen. Unsere Wohnzimmermöbel – oh, sie sahen aus wie eine Elefantenherde, ich weiß, und alle so alt. Und die chinesischen Kristallgehänge, die läuteten, wenn der Wind sie bewegte. Und die Unterhaltung mit den Nachbarn, wenn wir vorn auf der Veranda saßen. Juliabende. Alle diese verrückten, dummen Sachen… sie sind unwichtig. Aber anscheinend kommen einem gerade diese Dinge um drei Uhr morgens in den Sinn. Es tut mir leid.«
    »Es braucht dir nicht leid zu tun«, sagte er. »Der Mars ist so weit fort. Er riecht seltsam, sieht seltsam aus und fühlt sich seltsam an. Ich grüble auch nachts so vor mich hin. Wir wohnten in einer schönen Stadt.«
    »Sie war im Frühling und im Sommer grün«, sagte sie, »und im Herbst rot und gelb. Und wir hatten ein hübsches Haus; ja, es war alt – achtzig, neunzig Jahre oder so. Nachts hörte ich es immer sprechen. Es flüsterte unentwegt. All das trockene Holz, das Treppengeländer, die Veranda, die Türschwellen. Wo du hinfaßtest, sprach es zu dir. Jedes Zimmer anders. Und wenn das ganze Haus redete, dann war es, als hätte man im Dunkeln eine Familie um sich herum, die einen zu Bett brachte. Kein neues Haus, so wie sie heute bauen, kann wieder so sein. Viele Leute müssen sich erst in einem Haus einleben, um es anzuwärmen. Diese Hütte hier aber, die weiß nicht, daß ich drinnen bin, es ist ihr gleich, ob ich lebe oder sterbe. Sie klingt wie Blech, und Blech ist kalt. Sie hat keine Poren, in die die Jahre hineinsinken könnten. Sie hat keinen Keller, in dem man Sachen fürs nächste und übernächste Jahr abstellen kann. Sie hat keine Dachkammer, in der wir Sachen vom vergangenen Jahr und all den Jahren, bevor wir selber geboren waren, aufheben könnten. Wenn wir hier oben nur irgend etwas hätten, Bob, das uns vertraut wäre, dann könnten wir auch für alles Fremde Platz finden. Wenn aber alles fremd ist, dann dauert es ewig, bis man sich die Dinge vertraut machen kann.«
    Er nickte. »Alles, was du sagst, habe ich auch schon gedacht.«
    Sie sah nach den Koffern an der Wand hinüber, auf die das Mondlicht fiel. Er bemerkte, wie sie eine Hand nach ihnen ausstreckte.
    »Carrie!«
    »Was?«
    Er setzte rasch die Füße auf den Boden. »Carrie, ich habe etwas schrecklich Dummes getan. In all diesen Monaten hörte ich, wie du angstvoll träumtest, ich hörte nachts die Jungen und den Wind und den Mars da draußen, den Sand und das alles…« Er unterbrach sich und schluckte. »Du mußt verstehen, was ich tat und warum ich es tat. Ich habe all das Geld, das wir vor einem Monat noch auf der Bank hatten, alles Geld, das wir im Laufe von zehn Jahren sparten, ausgegeben!«
    »Bob!«
    »Ich habe es weggeworfen, Carrie, ich schwöre dir, ich habe es für nichts ausgegeben. Es sollte eine Überraschung sein. Aber nun höre ich, wie du redest, und da stehen diese verdammten Koffer auf dem Fußboden und…«
    »Bob«, sagte sie und drehte sich um. »Willst du damit sagen, daß wir dies alles auf uns genommen und jede Woche Geld zurückgelegt

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