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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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milchfarbener Marmor und an den Schläfen von zarten violetten Linien durchzogen. Die über den Augen geschlossenen Lider waren pastellfarben, als ob die Frau durch dieses dünne Gewebe hindurchblickte und die Männer über sich stehen und auf sie herunterblicken sah. Der Mund war eine blasse, leicht gerötete Seerose, voll und fest geschlossen, der Hals schlank und weiß und klein, und weiß ihre Brüste, die das steigende und sinkende Wasser bald bedeckte, bald enthüllte. An den Spitzen waren sie rötlich, und der übrige Körper war ungewöhnlich weiß, fast leuchtend, ein grünlichweißes Licht vor dem Sand. Wenn das Wasser ihn bewegte, schimmerte die Haut perlengleich.
    Die untere Hälfte des Körpers wechselte von Weiß in sehr blasses Blau hinüber, von Blaßblau in Blaßgrün, von Blaßgrün in Smaragdgrün, Moosgrün und Lindgrün, in Fünkchen und Ornamenten aus dunklem Grün, die dann in einer Fontäne, einem Bogen, einem Strom von Licht und Dunkel zerflossen und in einem fein verzierten Fächer, einem Schaumstreifen, einem Edelstein auf dem Sand endeten. Beide Hälften dieses Geschöpfs waren so zusammengefügt, daß man keine Nahtstelle sah, wo die Perlenfrau, die Frau aus weißem, schäumendem Wasser und hellem Himmel in die andere Hälfte überging. Sie gehörte der amphibisch gleitenden, sich heranwälzenden Strömung an, die die Küste hinaufstieg und wieder hinablief und diesen Leib in sein eigentliches Reich zurückzerrte. Die Frau war das Meer, das Meer war die Frau. Man sah keinen Riß und keine Trennungslinie, keine Falte und keinen Stich; die Illusion, wenn es wirklich eine Illusion war, hielt fest zusammen, und das Blut von der einen Hälfte strömte hinein und hindurch und vermischte sich mit dem Eiswasser der anderen.
    »Ich wollte weglaufen und Hilfe holen«, sagte der erste Junge leise. »Aber Skip sagt, sie ist tot, und dafür gibt’s keine Hilfe. Ist sie wirklich tot?«
    »Sie hat nie gelebt«, sagte Chico. »Bestimmt nicht«, fuhr er fort, als er den Blick der anderen auf sich spürte. »Das hier ist ein Überbleibsel von einem Filmstudio. Weiches Gummi, wie Haut über ein Stahlgerüst gespannt. Ein Requisit, eine Puppe.«
    »O nein, sie ist wirklich!«
    »Wir finden sicher irgendwo ein Etikett«, sagte Chico. »Hier.«
    »Tun Sie das nicht!« schrie der erste Junge.
    »Verdammt.« Chico faßte den Körper an, um ihn zu drehen, und hielt inne. Er kniete am Boden, und seine Miene veränderte sich.
    »Was ist los?« fragte Tom.
    Chico zog die Hand zurück und sah sie an. »Ich habe mich geirrt.« Die Stimme versagte ihm.
    Tom berührte das Handgelenk der Frau. »Hier ist der Puls.«
    »Du fühlst doch nur deinen eigenen Herzschlag.«
    »Ich weiß nicht recht… vielleicht… vielleicht…«
    Der Oberkörper der Frau bestand ganz aus Mondperlen und Flutschaum, und ihr Unterleib aus glitschigen, uralten schwarzgrünen Münzen, die sich im Auf und Ab von Wind und Wasser übereinanderschoben.
    »Es muß irgendein Trick dabeisein!« rief Chico plötzlich.
    »Nein, nein!« Tom fing ebenso plötzlich an zu lachen. »Das ist kein Trick! Mein Gott, es ist großartig! So etwas Großartiges habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt!«
    Sie gingen langsam um die Frau herum. Eine Welle berührte ihre Hand, so daß die Finger leicht winkten. Es war die Geste eines Wesens, das noch eine und noch eine Welle herbeisehnte, damit sie seine Finger hob und dann das Handgelenk und den Arm, den Kopf und schließlich den ganzen Körper und alles zusammen wieder ins Meer hinaustrug.
    »Tom.« Chicos Mund öffnete und schloß sich wieder. »Warum holst du nicht deinen Lastwagen?«
    Tom rührte sich nicht.
    »Hörst du?« fragte Chico.
    »Ja, aber…«
    »Aber was? Wir können sie irgendwann verkaufen, ich weiß nicht wem – vielleicht an die Universität oder an das Aquarium von Seal Beach oder… Könnten wir sie nicht einfach irgendwo hinbringen? Was meinst du?«
    Er schüttelte Toms Arm. »Fahr zur Mole. Kauf uns dreihundert Pfund Kühleis. Wenn man irgendwas aus dem Wasser holen will, braucht man Eis, nicht wahr?«
    »Das habe ich mir nie überlegt.«
    »Dann überleg es dir jetzt! Nun geh schon!«
    »Ich weiß nicht, Chico.«
    »Wie meinst du das? Sie ist echt, oder?« Er wandte sich an die Jungens. »Ihr sagt doch auch, daß sie echt ist, wie? Also, worauf warten wir dann noch?«
    »Chico«, sagte Tom, »du holst das Eis am besten selbst.«
    »Einer muß hierbleiben und aufpassen, daß sie nicht mit

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